Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle
Morgendämmerung sternhagelvoll in ihr Quartier. Natürlich laut singend und krakeelend.
Gegen Mittag krochen sie schließlich aus den Decken und überredeten uns, mit ihnen ein kleines, dämmriges Bistro gleich an der nächsten Ecke aufzusuchen, um dort etwas zu essen.
Ich hüllte mich in ein Tuch und drückte mich in den Schatten der Gasse. In dem kleinen Lokal suchten wir einen Tisch im hinteren Raum, wo kaum ein Lichtstrahl hinfiel. Die Männer aßen Croissants und tranken bitteren schwarzen Kaffee dazu, der so stark war, dass er Tote zum Leben hätte erwecken können, jedenfalls war das Friedrichs Meinung dazu.
Beide, Vanderborg wie der Große Pilati, waren erregt und höchst optimistisch und jubelten über das riesigesensationslüsterne Publikum, das sich durch die Stadt wälzte, weil sie sich für ihre Vorstellungen ausverkaufte Säle davon versprachen.
»Was für ein Nährboden für die Illusionskünste«, dröhnte der Große Pilati. »Wir werden Paris als reiche Männer verlassen, Vanderborg. Es war eine geniale Idee, hierherzukommen, wo ein Millionenpublikum nach eben der Unterhaltung lechzt, die wir ihm bieten können. Magie und Illusion!«
Und weil er so voller Zuversicht war, orderte er Champagner und wir alle stießen auf den zu erwartenden Geldsegen an.
Das Drama begann damit, dass weder Vanderborgs Illusionsmaschinen noch die Kiste des Großen Pilati mit seinen Zauberutensilien bisher in Paris angekommen waren. Und auch am nächsten und übernächsten Tag und auch in der darauffolgenden Woche nicht eintrafen.
Man wartete, vertröstete den Varietébesitzer und hatte immense Honorarausfälle.
Die Stimmung war sehr bald kritisch und gereizt durch die Hilflosigkeit und Ungewissheit, in der man sich befand. Vanderborg neigte zu resignativem Lamentieren, während der Große Pilati, wie gesagt ein Mann von mächtiger und imposanter Statur, seinem Ärger eher dröhnend Luft machte, indem er ständig zum Bahnhof fuhr und dort in der Stückgutabteilung wahllos herumschimpfte. Teils in gebrochenem Französisch, teils, wenn ihm die Vokabeln ausgingen, auf Deutsch, wobei Letzteres vermutlich erst recht dazu führte, dass man die Lieferung des »Erbfeindes« in irgendeiner Lagerhalle vergrub, um so ein wenig Rache zu üben für den erniedrigenden Versailler Vertrag, dessen Schmach die Grande Nation bis in ihre Grundfestenerschüttert hatte und die vermutlich nicht in Jahrhunderten vergessen sein würde.
Jedenfalls sah Friedrich das so.
»Wenn du mich fragst«, sagte er zu mir, »haben wir unser Problem vermutlich einzig und allein der Arroganz und Großmannssucht des Kaisers zu verdanken. Irgendein mutiger Franzose hätte ihm dafür noch im Spiegelsaal von Versailles eine ordentliche Ladung Pulver in den Hintern blasen sollen! Vielleicht wäre aus Deutschland dann eine Republik statt eines Kaiserreichs geworden!«
»Das klingt revolutionär, Friedrich, bist du vielleicht ein Sozialdemokrat?«
Friedrich lachte. »Und wenn? Wäre es schlimm? Viele meiner Künstlerfreunde sympathisieren mit demokratischen Ideen. Ist es nicht sehr viel freier hier als in Berlin, wo an jeder Ecke die Zensur oder ein Sittenwächter lauert? Den neuen Jugendstil muss man nicht nur in die Fassaden von Mietshäusern einbauen, sondern leben!«
Nun schmunzelte sogar Vanderborg über seinen Sohn.
Aber so war Friedrich eben, begeisterungsfähig und für Ideen, die ihm gefielen, schnell entflammbar. Dass Paris sein Herz im Sturm erobert hatte mit der besonderen Liberalität, die es anlässlich der Weltausstellung entfaltete, war also keine Frage. Und er hatte ja recht. Denn obwohl Berlin wirklich kein Dorf mehr war, stellte es verglichen mit Paris doch tiefste Provinz dar. Oder befand sich zumindest in einer Art Dornröschenschlaf, aus dem man es erwecken musste.
»Und zwar wie?«, fragte Friedrich auf meine diesbezügliche Anmerkung hin ironisch. »Indem du den Wilhelm auf die Schnute küsst?«
Darüber mochte ich dann allerdings nicht mehrdiskutieren, und da es Abend geworden war und ich es in der muffigen Kammer nicht mehr aushielt, lockte ich Friedrich zu einem Spaziergang hinaus.
Wir schlenderten den Hügel hinauf durch die »Petits Boulevards«, wo zahlreiche Künstler zwischen den Tanzhallen für die arbeitende Klasse sowie Revuetheatern und Bars ihre Ateliers hatten und ihren bohemienhaften Lebensstil entfalteten.
Friedrich erzählte mir von Malern, deren Namen man in Berlin nur hinter vorgehaltener Hand nennen durfte,
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