Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle
weil ihr Stil, wie zum Beispiel jener von Toulouse-Lautrec, als frivol galt und die Ausstellung ihrer Werke von der Zensur verboten wurde.
In den schmalen Gassen hatten viele Maler ihre Staffeleien aufgestellt und man konnte ihnen bei ihrer Arbeit über die Schulter schauen. Manche malten Porträts von den Weltausstellungsbesuchern, die sich auch heute wieder, neugierig auf die Boheme, vergnügungssüchtig in den Gassen drängten.
Ich schaute fasziniert zu, wie sie geschickt mit Kohle oder Kreide ein Profil auf den Zeichenblock warfen, aber Friedrich zog mich ungeduldig fort und meinte kritisch: »Das sind keine wirklichen Künstler, nur Kunsthandwerker, die sich schnell ein paar Francs verdienen und dabei die wahre Kunst verraten.«
»Nun, wenn so ein Verrat den Suppentopf für die nächste Woche füllt, sollte er wohl verziehen sein«, erwiderte ich und konnte nicht verhindern, dass ich ein wenig ärgerlich klang.
»Wie kann jemand wie du so verständnisvoll an anderer Leute Hunger denken, wenn er selber weniger als ein Vögelchen isst?«, neckte Friedrich mich, und um meinen Zorn zu dämpfen, zog er mich zu einem Hocker, drücktemich darauf nieder und befahl dem an seiner Staffelei stehenden Maler: »Un portrait, s’il vous plaît, von der jungen Mademoiselle …!«
Er hielt ihm einen Geldschein hin, und weil der Maler offensichtlich mit dem Angebot einverstanden war und ich ihm als Modell gefiel, rückte er seine Staffelei zurecht und begann mich mit Kohle zu skizzieren. Ich konnte nicht sehen, was da unter seinen flinken Händen für ein Porträt entstand, aber da Friedrich erst neugierig, dann amüsiert schaute, musste es wohl etwas Lustiges sein.
»Bon!«, sagte der Maler schließlich und drehte das Bild herum, sodass auch ich es nun sehen konnte.
Friedrich fing mich auf, als ich in Ohnmacht fiel.
Das Porträt war an sich sehr gelungen, die Ähnlichkeit frappierend, und ich hätte mich sehr darüber gefreut, wenn es mir nicht sogleich einen kalten Schauer über den Rücken gejagt und mein Herz fast zum Stillstand gebracht hätte, denn es zeigte mich als … Vampir!
Ein Zufall, sagte ich mir, nachdem ich mich gefasst hatte und mit Friedrich, der das zusammengerollte Bild unter dem Arm trug, unseren Weg fortsetzte. Und weil ich natürlich mit ihm nicht über den Grund meines Schwächeanfalls sprechen konnte, war ich froh, als ein fliegender Händler Plakatdrucke von Toulouse-Lautrec feilbot, auf denen Cancan-Tänzerinnen den Rock hochhoben und Bein sowie Strumpfband zeigten.
»Kauf mir davon eins, bitte, Friedrich!«, bat ich. Nicht vergebens. Er erstand ein Plakat und rollte es sorgfältig um das Kohleporträt.
»Wie du es durch die Zensur nach Deutschland hereinschmuggelst, ist aber deine Sache, Schwesterlein«, sagte er mit einem spitzbübischen Lächeln im Gesicht.
Ich weiß nicht, ob es Zufall war oder Absicht, jedenfalls standen wir nicht viel später auf einem Friedhof, dem Cimetière de Montmartre, auf dem, wie Friedrich aus dem Stadtführer zu berichten wusste, zahlreiche berühmte Persönlichkeiten ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Erst reagierte ich instinktiv mit Ablehnung, und als wir eine Weile im Dunklen zwischen den Gräbern umherstreiften, fühlte ich, wie das Elend rastloser Jahrhunderte mein Herz zusammenpresste wie eine eiserne Klammer.
Friedrich jedoch war voller Enthusiasmus und nahm nichts von meiner Beklemmung wahr. Vielmehr versuchte er im Mondschein die eine oder andere Inschrift eines besonders auffälligen Grabes oder Mausoleums zu entziffern.
Dass hier der Physiker André Marie Ampère begraben lag, hätte wohl Vanderborg besonders interessiert, mich beeindruckte eher das Grab der Kurtisane Marie Duplessis, der sogenannten Kameliendame , während Friedrich in schwärmerische Begeisterung ausbrach, als er das Grabmal von Heinrich Heine entdeckte, der hier, wie er erzählte, in seiner »Matratzengruft« verschieden war. Es war ein säulenartig aufragender, vergleichsweise schlichter heller Sockel mit der Porträtbüste des Dichters.
Versunken stand Friedrich eine Weile davor und huldigte in stillem Gedenken seinem Idol. Wie sehr ihn diese Begegnung berührt hatte, spürte ich auch noch, als wir uns später auf einer Friedhofsbank niederließen.
»Er war ein Genie«, sagte Friedrich. »Ein intelligenter und überaus kritischer Beobachter des bigotten biedermeierlichen Deutschlands. Mein Lehrer Dr. Meyerhold war ein eifriger Erforscher seiner Schriften und hat uns
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