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Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle

Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle

Titel: Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bianka Minte-König
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Chahut!
    Alles war unglaublich aufregend, wobei ich permanent das Gefühl hatte, etwas Anstößiges zu tun, was ich aber dennoch ganz wunderbar fand. Friedrich meinte, zumindest am Anfang, als er noch nüchtern war, dass die Weltausstellung nicht nur Gutes bewirken würde, weil die Gegend um den Montmartre zu einem riesigen Vergnügungsviertel mit Massenbetrieb zu verkommen drohte. Ein einziger großer Rummelplatz, der allen alles bieten wollte und möglichst noch mehr.
    »Fühlst du nicht auch«, sagte er, als wir beim Wechsel inein anderes Lokal in einer kleinen, engen Gasse unter einer der wohl letzten Gaslaternen eine Verschnaufpause einlegten, »dass hier eine Epoche zu Ende geht? Wenn alle am Montmartre die Boheme suchen, werden die Bohemiens bald woanders hingehen. Wer kann in diesem Trubel denn noch schöpferisch tätig sein? Ich jedenfalls könnte es nicht.«
    Ich fand, dass er das zu kritisch sah, und weil ich mich in dieser Nacht einfach nur amüsieren wollte und mich die ausgelassene Musik mitriss, die aus den vielen Tanzhallen zu uns drang, zog ich ihn fort zur nächsten Tanzbar.
    Auch hier, wie fast überall im Quartier, spielte eine Zwei-Mann-Kapelle auf dem Akkordeon bevorzugt die schwungvollen Musettewalzer. Also tanzten wir ausgelassen weiter und Friedrich trank Wein und französischen Schnaps, der Absinth hieß und nach Anis duftete. Der schien ziemlich hochprozentig zu sein, denn bald stand er nicht mehr so ganz sicher auf den Beinen, und da es mir zu mühsam wurde, ihn beim Tanzen ständig zu stützen, setzten wir uns an einen Tisch.
    »Das müssten wir mit nach Deutschland nehmen«, sagte ich zu Friedrich.
    »Was?«
    »Die Musik und die neuen Tänze und diese lockere Kleidung der Damen!«
    Friedrich lachte, flüsterte mir dann aber gespielt verschwörerisch zu: »Passt nur auf, kleines Fräulein, was Ihr da importieren wollt, ist, fürchte ich, zersetzend.«
    »So«, meinte ich kichernd, »was zersetzt es denn?«
    »Die Autorität des Kaisers«, lallte Friedrich mit schwerer Zunge. »Und das ist Majestätsbeleidigung, darauf steht … die Todesstrafe oder … also mindestens … zehn Jahre Militärknast in Spandau!«
    Er hatte es spaßhaft gemeint, versetzte mich aber dennoch in solche Angst, dass ich mich sofort hektisch umsah, ob jemand unsere Äußerungen belauscht haben könnte, denn unter dem internationalen Publikum waren immer auch einige Deutsche.
    Ich fing den Blick eines Mannes von mittleren Jahren auf, der sichtlich interessiert, um nicht zu sagen neugierig, zu uns herübersah. Er war in einen unauffälligen Straßenanzug von bräunlicher Farbe gekleidet und trug das ähnlichfarbene Haar relativ lang, dafür dass er einen mächtigen Backenbart darunter herangezüchtet hatte. Beides zusammen gab ihm ein etwas verwildertes Aussehen, und die kurze Stummelpfeife, die er im Mundwinkel stecken hatte, unterstützte diesen unkonventionellen Eindruck noch.
    Er hatte ein Notizheft vor sich auf dem Tresen liegen und schrieb eifrig hinein. Was wohl?
    Ich machte Friedrich auf ihn aufmerksam und fragte leise: »Ist das ein Spitzel, Friedrich, glaubst du, er spioniert uns aus?«
    Doch Friedrich lachte nur und meinte leicht angeheitert und darum völlig unernst: »Liebste! Hier doch nicht! Bis hierher reicht selbst des deutschen Kaisers scharfes Auge nicht!«
    Er kippte den Wein nun ziemlich unkontrolliert hinunter.
    »Er sieht mir ganz nach einem Schreiberling, einem Reporter aus, der für eine der Gazetten oder Illustrierten Zeitungen von der Weltausstellung Bericht erstattet. Ich würde sagen … ein Engländer … bei diesem Backenbart … und dieser Pfeife!«
    Da ich noch nie mit Engländern zu tun gehabt hatte,nahm ich an, dass Friedrich wohl recht haben musste, und vergaß den Mann.
    Friedrich war ziemlich betrunken, als wir kurz vor Beginn der Morgendämmerung zurück zu unserem Quartier wankten. Er schmetterte lauthals französische Lieder, wo immer er die auch herhatte, und baute sich schließlich salutierend vor einem Gedenkstein für die Gefallenen der Juli-Revolution von 1830 auf und sang die Marseillaise ab, wobei ich freilich revolutionserprobt mithalten konnte.
    »Allons enfants de la Patrihihiiiie…
    Le jour de gloire est arrivé!
    ...«
    Aber ehe wir uns versahen, waren wir plötzlich umgeben von einer spontanen Ansammlung von Menschen, die, jeweils die Faust ans Herz gepresst, mit uns in den Refrain einstimmte:
    »Aux armes, citoyens,
    Formez vos bataillons,
    Marchons,

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