Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle
Schülern so manchen Erguss aus seiner Feder vorgetragen. Dashat nicht allen Eltern gepasst, und so bekam er bald einen Verweis und eine Versetzung an eine andere Schule. Ich trauerte ihm nach, denn über Heine hatte er in mir das Saatkorn der Gedankenfreiheit zum Blühen gebracht.«
Ich musste lächeln, weil er sich einer so überaus blumigen, um nicht zu sagen kitschigen, Sprache bediente. Da hatte wohl die Begeisterung seines Lehrers wortwörtlich auf ihn abgefärbt. Als er meinen skeptischen Blick bemerkte, zog er mich in seinen Arm und drückte mich an sich, während er leise mit nach innen gewandtem Blick sagte: »… Das ist das Los, das Menschenlos: – was gut und groß und schön, das nimmt ein schlechtes Ende .«
In der Nacht lag ich wach an Friedrichs Seite und grübelte über sein Heine-Zitat nach. War es tatsächlich so, dass nichts wirklich Bestand hatte, dass alles, was einmal großartig war, an der Schlechtigkeit der Welt zerbrechen musste?
Ich dachte an Marats Ermordung durch die Corday, war es das, was Heine meinte, dass selbst ein so hervorragender Geist nicht gegen ein so unwürdiges Ende gefeit war?
Mich beschlich eine tiefe Melancholie und ich wälzte mich unruhig und verzweifelt auf dem Lager. Wozu war mir das Leben neu geschenkt worden, wenn doch alles so hoffnungslos war?
Das Porträt fiel mir wieder ein und plötzlich konnte ich es nicht mehr als einen Zufall abtun, dass der Maler mich ausgerechnet als Vampirin porträtiert hatte.
Ich versuchte mich an das Gesicht des Mannes zu erinnern. Es war sehr alt und zerfurcht und sein Haar war schütter. Wer immer er auch gewesen sein mochte, er hatte aufgrund einer mir unerfindlichen Fähigkeit hinter meine Maske geschaut, mein wahres Ich erkannt.
Ich spürte die Angst wie eine Schlange in meinen Leib kriechen, glatt und kalt und unaufhaltsam. Wenn es ihm möglich gewesen war, würde es auch anderen gelingen, die Fassade niederzureißen, die mir zum Schutz diente, und mein geheimes Wesen zu entlarven?
Ich hörte Friedrichs leise schnaufenden Atem. Hatte vielleicht auch er einen Verdacht geschöpft, den er noch vor mir verbarg? Hatte er deswegen gesagt, dass alles Schöne und Gute in Schlechtigkeit untergehen müsse? Wollte er damit andeuten, dass er mich durchschaut hatte und allmählich begriff, dass seine hübsche Schwester Estelle tot war und ein vampirisches Monster an ihrer Stelle den zauberhaften Körper besetzt hielt, den er so liebte?
Ich setzte mich auf und betrachtete den schlafenden Friedrich.
Wie sanft seine Züge waren im weichen Mondlicht, das gedämpft durch die verstaubten Fensterscheiben drang.
Ich küsste seine Stirn, seine Augen und dann seinen Mund. Den ganz kurz nur, ein Kuss wie ein Hauch, aber ein Kuss, der mich ahnen ließ, welche Wonnen ich ausschlug, als ich mich losriss und von Friedrich abwandte. »Heine hat unrecht, Friedrich«, wisperte ich. »Das wirklich Große wird nie vergehen. Und weil das Größte unter all dem Großen die Liebe ist, darum wird sie ewig sein.«
A m nächsten Abend, Vanderborgs Maschinen ließen immer noch auf sich warten, tat Friedrich sehr geheimnisvoll und schleppte mich in das Vergnügungszentrum am Fuße der Butte.
»Voilà!«, sagte er und holte mit einer Handbewegung weit aus, als wolle er mir die Welt präsentieren, auch wennes nur die Halbwelt war. »Das neue Zentrum der Demimonde: Le Moulin Rouge!«
Der Eintritt war unglaublich teuer und nun wusste ich auch, warum Friedrich darauf bestanden hatte, dass wir uns recht ordentlich herausputzten, denn ohne Kragen und Fliege wäre er gar nicht hineingekommen. Der Aufwand hatte sich gelohnt und wir waren, wie ich fand, ein wirklich ansehnliches Paar. Dennoch wirkten wir recht ärmlich gegen die aufgetakelten ältlichen Fregatten am Arm dickleibiger Herren, denen die goldenen Uhrketten auf dem Bauch tanzten. Aber Friedrich war so gut gelaunt und lustig, dass es uns gar nicht kümmerte und wir einfach nur alles genossen, was uns geboten wurde, und bei so mancher Darbietung, muss ich gestehen, blieb uns fast die Luft weg.
Der Cancan zum Beispiel wurde hier um einiges erotischer getanzt als in den anderen Etablissements, und die Kostüme waren von allergrößter Pracht und exquisitem Stil. Wir tranken ein Glas Champagner, zu mehr reichte das Geld nicht, und tanzten zuerst noch im Moulin Rouge, später dann in billigeren Tanzdielen die neuesten Pariser Modetänze, darunter vor allem den verrückten und ziemlich freizügigen Le
Weitere Kostenlose Bücher