Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle
wolkenverhangenen Nachmittagen mit der Kutsche hinaus an den zugefrorenen Wannsee fahren, schnallte die Schlittschuhe unter und lief vor meiner unvernünftigen Sehnsucht über das Eis davon.
Doch sie holte mich ein, immer und immer schneller, und trotzdem ich sicher war, von Treuburg-Sassen nie wieder zu sehen, fand ich ihn plötzlich an meiner Seite über das Eis gleitend und frohgemut ein paar Verse des Poeten Christian Morgenstern zitierend, die er vermutlich bei einem Zug mit Friedrich durch die Dichterkneipen aufgeschnappt hatte.
Er trug sie so amüsant vor, dass sie mich zum Lachen brachten.
» Ein Seufzer lief Schlittschuh auf nächtlichem Eis
Und träumte von Liebe und Freude …
Der Seufzer dacht an ein Maidelein
Und blieb erglühend stehen.
Da schmolz die Eisbahn unter ihm ein
Und er sank – und ward nimmer gesehen .«
Er stoppte, zog mich an sich und küsste mich.
»Ich muss allerdings aufpassen, dass es mir nicht wie dem Seufzer geht, mir ist schon ähnlich heiß!«, sagte ich atemlos, als er mich schließlich freigab.
Ich konnte das Glück kaum fassen, das mich bei seinem so völlig unerwarteten Anblick durchflutete, und als er ohne Worte meine Hand erneut ergriff, ließ ich es geschehen. Ich zählte nicht die Runden, die wir so Hand in Hand zurücklegten, es wurde dunkel und es wurde Nacht und niemand außer uns war noch auf dem See. Der Kutscher musste längst erfroren sein auf seinem Bock und die Pferde zu Eis erstarrten Statuen im Reich der Schneekönigin geworden. Was kümmerte es uns, solange der Mond am Himmel stand und genug Licht gab, damit wir weiter unsere Bahn ziehen konnten.
Uns wurde nicht kalt, sondern bei jeder Runde, die wir drehten, hatte ich das Gefühl, wärmer zu werden, und als wir schließlich erhitzt stehen blieben unter des Mondes glänzender Scheibe, da fanden sich unsere Lippen erneut zu einem Kuss voller Ungeduld und Leidenschaft, an dessen Ende wir beide sehr unelegant auf unseren Hinterteilen auf dem Eis landeten.
Wir lachten noch wie die Kinder, als wir mit den Schlittschuhen in der Hand zur Kutsche liefen, um uns an einen wärmeren Ort bringen zu lassen, der weniger glatt und zum Küssen besser geeignet war.
Der Kutscher kannte eine gemütliche Klause am See und lenkte die Pferde ohne Murren dorthin. Ein Feuer knisterte in einem Kanonenofen im Schankraum und es gab Bratäpfel sowie Glühwein mit Zucker und Zimt. Nach zwei Bechern des labenden Trankes hatte ich einen Schwips und konnte nichts anderes mehr als küssen und kichern, was Amadeus ausnehmend gut zu gefallen schien. Es ging auf Mitternacht zu, als er zum Aufbruch drängte, denn er musste zurück in die Garnison.
Der Kutscher machte, nachdem er ihm eine Markzugesteckt hatte, freundlicherweise den kleinen Umweg dorthin, bevor er mich sicher nach Hause brachte.
»Wir sollten uns nicht wiedersehen …«, hatte ich gesagt und doch mein ganzes Verlangen in diese ablehnenden Worte gelegt.
Und so hatte Amadeus meine Sehnsucht gespürt und geantwortet: »Unsinn! Natürlich werden wir uns wiedersehen. Wie sollte ich denn weiterleben ohne deine Küsse?«
Ich schlich mich ins Haus und in die Wohnung und hatte das Glück, mein Zimmer zu erreichen, ohne jemandem zu begegnen.
Dann kleidete ich mich aus und stand eine Weile nackt vor dem großen Spiegel an meinem Schrank. Wieder einmal betrachtete ich in ungläubigem Staunen Estelles makellosen jungen Körper, der von einer Aura der Reinheit und Unschuld umglänzt war, die mir das Herz zusammenpresste. Und plötzlich befürchtete ich, dass Amadeus’ Liebe nur dem galt, was von ihr geblieben war, und nicht mir. Denn das Ich, welches ich gewesen, bevor ich Einzug in Estelles Körper hielt, war freilich anderer Natur, als es sich von Treubrug-Sassen denken mochte.
Nicht dass ich nicht ein ebenso unschuldiges Mädchen mit reinem Herzen und dem Glauben an das Gute im Menschen gewesen wäre, darin ähnelten Estelle und ich uns gewiss. Auch kam ich aus dem arbeitenden Stande und wusste wohl, als meiner Eltern einziges überlebendes Kind, fest anzupacken, wo es nottat. Und es tat überall not. Auf dem Feld, im Haushalt, beim Hühnervieh.
Doch durch die Grausamkeit des Grafen von Przytulek hatte sich mir die Hölle aufgetan, in der meine Seele zu dem geschmiedet wurde, was sie heute ist. Ein harter Stahl, dennur ein Feuer biegen kann, das heißer glüht als das der Hölle: Liebe.
Ich wandte mich vom Spiegel ab und lief, in meinem Inneren zerrissen, im Zimmer hin und
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