Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle
an nicht eine ebenso leidenschaftliche Zuneigung gespürt wie er zu mir? War er im Gegensatz zu mir nur mutig genug gewesen, dieser Leidenschaft nachzugeben, uns wenigstens einen Moment der Liebe zu schenken, ehe wir, der Konvention Genüge tuend, zurückkehren mussten in unsere angestammten Pflichten?
»Ich verzeihe und danke dir«, sagte ich aus diesen Gedanken heraus. »Es wäre unverzeihlich, wenn wir dies nicht hätten erleben dürfen. Ich werde für den Rest meines Lebens davon zehren.«
Er setzte sich neben mich und zog mich erneut in seine Arme, um mich zu herzen und zu küssen und zu vollenden, was in der Kälte des Schneesturms abgebrochen worden war.
Ich wagte kaum Luft zu holen, und obwohl mein Unbehagen unermesslich war, befürchtete ich durch jede kleinste Lebensäußerung, die Katastrophe, die unausweichlich schien, nur zu beschleunigen. Entweder brach der Vampir aus mir hervor und ich brachte Amadeus durch einenmeiner nächsten Küsse zu Tode oder aber wir würden Ausgestoßene und Geächtete sein und unserer Liebe würde für immer und ewig der Makel des Verbrechens anhaften. Was rein und wahr sein sollte, wäre dreckig und verlogen.
Bei wiedererwachtem Verstand schrak ich vor diesen Konsequenzen zurück. Was gesehen war, war geschehen und es war wundervoll und ein berauschendes Glück, aber ohne Zukunft. Um sein Leben zu schützen, hatte ich Friedrich schweren Herzens aufgeben müssen, bei Amadeus würde es nicht anders sein. Noch einmal aber konnte ich einen solchen Verlust gewiss nicht ertragen. Zudem war ich einem anderen versprochen, und ich würde nicht nur mich und Amadeus ins Unglück stürzen, wenn ich mein Eheversprechen nicht einlöste, sondern auch Vanderborgs ganze Familie.
Utz würde, so wie ich sein unterdrücktes Naturell einschätzte, wie ein Berserker auf eine solche Schmach reagieren und unversöhnlich an jedem Rache üben, der ihm diese angetan hatte.
So war es nicht die Sorge um mich selbst, sondern um die, welche ich liebte, die mich Amadeus’ Liebkosungen zurückweisen ließ.
»Fahr mich zurück nach Berlin«, sagte ich. »Es wäre gut, wenn ich zu Hause wäre, bevor die Männer kommen und mich in diesem Zustand sehen.«
Er verstand und wortlos ließ er von mir ab, ordnete seine Garderobe und stieg zurück auf den Kutschbock. Wenig später ruckte der Wagen an und holperte aus dem Waldweg hinaus auf eine befestigte Straße.
Ich betrachtete meine weißen Hände, auf denen sich die Risse, welche ihnen die Dornen zugefügt hatten, langsam schlossen. Auch die Schmerzen in meinen Füßen ließennach. Der Schmerz in meinem Herzen aber blieb. Ich schloss die Augen, und Amadeus’ Küsse brannten auf meinen Lippen und ich sehnte mich danach, ihn in meinem Schoß zu spüren. Es war das erste Mal in meinem vierhundertjährigen Leben, dass ich – von der Verirrung mit Friedrich abgesehen – freiwillig einem Mann diese Nähe erlauben wollte, und ich starb fast vor Verzweiflung, weil es nicht sein durfte.
»Triff mich wieder!«, bat Amadeus beim Abschied.
Ich schüttelte den Kopf, und weil er vermutlich nur dieses Argument verstehen würde, sagte ich eindringlich: »Es wäre ein Verbrechen gegen die Ehre, tu dir und mir und allen, die wir lieben, das nicht an!«
»Ich liebe nur dich«, entgegnete er, stieg auf den Bock, ließ die Peitsche knallen und lenkte die Kutsche in die Nacht.
Mir war schmerzlich klar, dass wir uns nie wiedersehen durften.
Sag niemals nie, hatte er gesagt, aber diesmal musste es dennoch sein.
I ch hätte, wo ich schon nicht glücklich war, doch wenigstens zufrieden sein sollen. Vanderborgs Existenz war gerettet, die Wohnung musste nicht aufgegeben werden und Hansmann begleitete Utz auf seiner nächsten Reise in die Kolonien.
Alles hatte sich auf das Beste gefügt und mir blieb, solange Utz in den Kolonien weilte, sogar genügend Zeit, mich in Ruhe auf mein Leben als verheiratete Frau vorzubereiten.
Zufriedenheit stellte sich bei mir dennoch nicht ein.
Ich konnte, obwohl ich verstandesmäßig die Episode abgehakt hatte, Amadeus nicht vergessen.
Noch nie hatte ein Mann es vermocht, eine derartige sinnverwirrende Leidenschaft in mir zu entfachen, ohne zugleich die blutsaugende Bestie in mir zu wecken. Nicht einmal Friedrich war es gelungen, obwohl doch seine Liebe so treu und selbstlos war … Was war anders bei Amadeus? Gab es für uns nicht doch eine Chance? Und weil mir diese Frage schwer auf der Seele lag, ließ ich mich, sooft es ging, an
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