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Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle

Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle

Titel: Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bianka Minte-König
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fleißig die Wadenwickel, warm oder kalt, je nachdem, was er für angebracht hielt, gewechselt wurden.
    »Es wird eine Influenza sein«, diagnostizierte er laienhaft, was mir aber recht war, denn es wäre ihm wohl nur schwer erklärbar gewesen, dass mich ein seelischer Zusammenbruch so niedergeworfen hatte.
    Schließlich jedoch war auch das überstanden und ich befand mich dank meiner Selbstheilungskräfte auf dem Wege der körperlichen Besserung. Meine Seele aber blieb in einem dunklen Käfig gefangen, und so war ich nach meiner relativen Gesundung noch immer nicht in der Lage, der Welt und ihren Menschen zu begegnen, und verharrte in einer todesähnlichen Starre in meinem Zimmer.
    Ich war mit Scham und Hass angefüllt und wollte michdafür wohl unbewusst selbst kasteien. Schließlich aber begann ich doch gelegentlich des Nachts der Enge meines Zimmers zu entfliehen und unter Malern, Dichtern, Musikern und anderen Künstlern in den kleinen Spelunken von Berlin Zerstreuung und vor allem eine Blutquelle zu suchen. Nur gesundes frisches Blut würde in der Lage sein, mir meine Energie zurückzugeben. Es wäre nicht schwer gewesen, ein passendes Opfer unter den Nachtgestalten zu finden, aber ich war seelisch so erschöpft, dass ich eine seltsame Beißhemmung hatte und zunächst ungesättigt wieder heimkehrte. Mein Geist allerdings fand reichlich Nahrung.
    Unter dem Einfluss der Weltausstellung von Paris hatte sich auch in Berlin am Anfang des Jahrhunderts eine Kleinkunstszene entwickelt, die das bohemienhafte Leben pflegte und erstaunlich frei und frech dem Konservativismus und der Zensur des Deutschen Reiches mit oft bissiger Satire die Stirn bot. Kabaretts nach dem Vorbild des Chat Noir entstanden und nannten sich Überbrettl oder Schall und Rauch , worin sie zwar auch schnell wieder aufgingen, wenn die Zensurbehörde erst auf sie aufmerksam geworden war, doch ganz unterdrücken ließ sich der intellektuelle Aufschwung nicht.
    Eines Nachts lernte ich eine junge Jüdin kennen, die mich mit dem Dichter Christian Morgenstern bekannt machte, dessen Gedicht vom »Schlittschuh laufenden Seufzer« ich durch Amadeus kennengelernt hatte und das mich sehr amüsiert hatte. Als ich ihm davon erzählte, war er erfreut, ja fast beglückt und gab gleich mehrere seiner neuesten Galgenlieder zum Besten, die er in Kürze in einer Sammlung im Verlag von Bruno Cassirer zu veröffentlichen gedachte. Sie waren sehr knapp und von unglaublich pointierter Bissigkeit, die mich trotz meinermelancholischen Seelenlage immer wieder schmunzeln ließ, wie das Bundeslied der Galgenbrüder oder das Mondschaf, das der großen Schur harrt.
    Als ich, wieder in meinem Zimmer angekommen, das Fenster öffnete, um die frische Nachtluft hereinzulassen, stand der Mond am Himmel und zog mich in seinen Bann. Wie intuitiv Morgensterns Poesie doch seine Natur erfasst hatte, die der meinen so ähnlich war. Ein Botschafter der Nacht, genau wie ich verdammt, im Licht des Tages zu vergehen.
    »Das Mondschaf liegt am Morgen tot.
    Sein Leib ist weiß, die Sonn’ ist rot.«
    So war es für mich amüsant und lehrreich zugleich und immer ein Erkenntnisgewinn, den nächtlichen und oft heimlichen Treffen beizuwohnen, an denen junge Literaten die Zertrümmerung der Sprache forderten und Maler begannen, der Farbe Vorrang vor der Form zu geben. Beides in den offiziellen Akademiekreisen etwas gänzlich Undenkbares. Aber sie alle fühlten sich als Propheten einer neuen Zeit, in der die Fotografie es übernehmen würde, ein optisches Abbild der objektiv wahrnehmbaren Welt zu liefern, während es Aufgabe der Künste sein würde, der tieferen Seele der Dinge nachzuspüren, um sie aus ihren formalen Zwängen zu befreien.
    Es war ein erster Schritt, die bürgerliche Ordnung des Kaiserreichs zu hinterfragen und den sozialen und politischen Umbruch der Gesellschaft mit den Mitteln der Künste wie überall in Europa auch in Berlin voranzutreiben.
    Aber es waren nur kleine Gruppierungen und ihre Zusammenkünfte wurden nicht selten durch die Staatsmacht gesprengt. Während diese jungen Leute versuchten mitihrer Kunst der Welt ein erträglicheres Gesicht zu geben, mussten sie nicht selten feststellen, dass es sie selbst dabei zerriss.
    Sie kämpften gegen die Armut und vegetierten doch selber in ihr, und immer wieder erfuhren sie am eigenen Leib, dass sich der Mensch als der größte Feind der von ihnen eingeforderten Menschlichkeit erwies.
    Auch wenn ich also ihr Tun in einer gewissen

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