Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle
schließlich von Utz und Amadeus und meinen grauenhaften Zweifeln hinsichtlich der Vaterschaft meines ungeborenen Kindes erzählte.
Wenn es sie schockiert hatte, so ließ sie es sich nicht anmerken. Das Mitleid jedenfalls, das aus ihren Augen sprach, war echt, als sie sagte: »Gnädige Frau, es ist wirklich schrecklich, was Ihr mitgemacht habt, aber bedenkt, wie schön es wäre, wenn das Kind doch von Leutnant von Treuburg-Sassen ist, wovon ich fest überzeugt bin. Denn nichts kann in Liebe enden, was in Hass gezeugt wurde, und ein Kind ist Liebe und kann auch nur durch Liebe gezeugt werden. Ich bin ganz sicher, dass Ihr Euch unnötig Sorgen macht, denn ganz gewiss ist der Mann, den Ihr liebt, auch der Erzeuger Eures Kindes. Ihr müsst nur fest genug daran glauben und die Hoffnung nicht aufgeben, dann wird Gott Euch segnen.«
Ich zuckte bei ihren christlichen Worten zusammen, obwohl ich ihr so gerne gefolgt wäre und mein Heil in der Religion gesucht hätte. Aber dieser Trost der Sterblichen war mir verwehrt. Und mit dem Schicksal, das wusste ich aus langer leidvoller Erfahrung, war nicht zu rechnen. Es hatte für mich immer die Nieten bereitgehalten, warum sollte ich ausgerechnet diesmal einen Hauptgewinn in meinem Leib tragen?
Dennoch ließ ich mich von Käthe bewegen, aufzustehen und in mein Arbeitszimmer zu gehen, um in den Büchern ein wenig Ablenkung und Zerstreuung zu finden.
Ich blätterte wahllos in ein paar Gedichtbänden, dann trat ich an meinen Schreibtisch und holte ein Päckchen daraus hervor. Es war in alte Zeitungen eingeschlagen und ich hatte es in einer der Nachlasskisten gefunden, die mir Friedrich gebracht hatte, als ich mein Studierzimmer einrichtete. Ich hatte es bisher wie einen Schatz gehütet. Nun wickelte ich es aus und vor mir lag ein großes Buch in feinstes Rindsleder gebunden, in dessen Deckel mit goldenen Lettern das Wort Chronik gestanzt war.
Ich schlug es auf und jungfräulich weiße Seiten lagen unberührt vor mir. Wer dieses Buch mit der Absicht angeschafft hatte, es für seine Familienchronik zu benutzen, war nicht mehr dazu gekommen, sie aufzuzeichnen. So nahm nun ich dieses Buch, holte mir Tinte und Füllfederhalter und schrieb:
Blankensee, im Juni 1904
Ich beginne dieses Buch in großer Verzweiflung.
Eine dunkle Chronik der Familie Vanderborg, die von jenen berichten wird, welche im Schatten ihr Dasein fristen und Lichtund Liebe fliehen müssen, weil sie Tod und Verderben über sie bringen.
Ich schreibe dieses Buch für die Nachwelt, für jene, die niemals sein dürften und doch sein werden.
Ich schreibe es für das Kind, welches ich unter meinem Herzen trage und von dem ich nicht weiß, wer sein Vater ist. Das verabscheuungswürdige Scheusal, mit dem ich verheiratet bin, oder der heimliche Geliebte, von dem niemand wissen darf und den ich verleugnen muss, damit ihm meine Liebe nicht den Tod bringt.
Ich schreibe dieses Buch in großer Verzweiflung, aber ich schreibe es als Zeugnis für meine Nachkommen, welche die dunkle Linie der Vanderborgs begründen werden.
Ich schreibe es, weil das Schicksal es so bestimmt hat.
Estelle
U tz war seit seiner Rückkehr aus den Kolonien nicht einmal in Blankensee aufgetaucht. Ich war ihm, wie es schien, vollkommen egal, und das sollte mir jetzt mehr denn je recht sein. Ihm hier zu begegnen würde mich wahrscheinlich so deprimieren, dass ich mich sofort in der Mittagssonne in die Fluten des Sees stürzen würde. Es reichte mir, wenn Friedrich Bericht erstattete, mehr musste ich von meinem verhassten Ehemann nicht hören und sehen.
Natürlich hatte er, wie nicht anders zu erwarten war, sein lasterhaftes Leben sofort wieder aufgenommen und seine Rückkehr aus den Kolonien mit Geschäftsfreunden in seinem Haus mit einem großen Empfang gefeiert, bei dem auch Madame Chantal nicht fehlte, die er, wie Friedrich sehr verärgert erzählte, an meiner Stelle wie die Dame des Hauses repräsentieren ließ. »Es war ein unwürdigesSchauspiel, noch dazu, wenn man weiß, in welch ärmlichen Umständen du hier lebst.«
Bei dem Wort »Umständen« zuckte ich verschreckt zusammen und sah ihn dann scharf an. Was wusste er? Sah man mir meinen Zustand schon so deutlich an?
Man tat es wohl nicht. Ein Mann jedenfalls würde ihn schwerlich bemerken. Auch hatte ich viele Unterröcke und ein weit geschnittenes Kleid gewählt, das in die ländliche Umgebung passte und meine zunehmende Leibesfülle bestens verhüllte. So war meine Sorge ganz
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