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Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle

Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle

Titel: Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bianka Minte-König
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ergaben. Aber das Grauen nahm kein Ende. Eiligst anberaumte Kriegsgerichte verurteilten Dutzende von Aufständischen zum Tode durch sofortiges Erschießen, Hunderte wurden inhaftiert und Tausende, die mit den Revolutionären sympathisiert hatten, sahen sich in ihren Zukunftshoffnungen betrogen, kehrten dem despotischen Deutschland den Rücken und wanderten nach Amerika aus.
    Ich blieb lange genug bei Agnes, um das Scheitern der revolutionären Aufstände zu erleben, und wie ich es nicht anders erwartet hatte, triumphierte bald in ganz Europa wieder die Monarchie, mal mit, mal ohne Konstitution, je nachdem wieerfolgreich sich das Bürgertum mit den Feudalisten ins Benehmen setzen konnte. Agnes trug mir viele Gedichte vor, in denen das bittere Ende der Revolution beklagt wurde, haften geblieben ist mir nur diese verzweifelt optimistische Zeile, die Agnes aus der Neuen Rheinischen Zeitung vorlas und über die wir lange diskutierten: »Ihr hemmt uns, doch ihr zwingt uns nicht! Unser die Welt, trotz alledem!«
    »Freiligrath, der dies schrieb, hat recht. Irgendwann wird die Welt demokratisch sein und allen Menschen gehören und nicht mehr nur den Fürsten. Das Parlament in der Paulskirche ist ein erster richtiger Schritt, um gleiche Bürgerrechte für alle zu erreichen«, meinte Agnes.
    Ich teilte ihren Optimismus nicht.
    Allerdings war ich durch den Unterricht, den mir Agnes angedeihen ließ, eine andere geworden und begriff, dass neben dem materiellen Sein Kultur und Kunst dem Menschen geistige Räume erschlossen, die ihn sein Menschsein erst in dessen Gänze erfahren ließen. Das Philosophieren über diese Dinge ließ mich mein eigenes Schicksal zwar nicht wirklich verstehen, aber neu begreifen. Und es bereitete mir Genugtuung, zu wissen, dass ich mit der Rache am Geschlecht der Grafen von Przytulek nicht nur mich persönlich rächte, sondern im Namen all jener handelte, die zum Opfer von Fürstenwillkür geworden waren.
    Ich wäre gerne länger bei Agnes geblieben, um noch mehr von ihr zu lernen, aber im Herbst des Jahres 1849 traf ein schwerer Schicksalsschlag das gastliche Haus der Besancours.
    Die Cholera raffte erst Agnes’ Vater und dann sie selbst dahin. Sie starb innerhalb weniger Tage in meinen Armen, und es gab keine Medizin, die sie hätte retten können. Ich rieb ihr wie wahnsinnig Arme und Beine mit Branntwein ein, um den trägen, ja stockenden Fluss ihres Blutes anzuregen, aber gegen die Eiseskälte, die ihren Körper befallen hatte, war ichmachtlos. Vielleicht hätte ich sie beißen und zu einer Vampirin machen sollen, um mir ihre ewige Freundschaft zu sichern. Aber sie war eine tiefgläubige Hugenottin und so konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie in meiner dunklen Welt ihr Heil gefunden hätte.
    So begrub ich sie im Garten hinter dem Haus und verließ mit den überlebenden Dienstboten das Anwesen.
    »Der Mensch ist kein Tier«, hatte Agnes gesagt, »er kann entscheiden, ob er gut sein will oder böse, er kann entscheiden, ob er seinesgleichen lieben oder ausbeuten will.«
    Das war wohl richtig, aber was nützte es ihm, solange er nicht auch über Leben und Tod entscheiden konnte?
    Ich haderte lange mit dem Schicksal, weil es einen so wertvollen Menschen wie Agnes sterben ließ, mich hingegen zu ewigem Leben verdammt hatte. Und als ich ging, weinte ich.

    Allein Agnes hatte ich es zu verdanken, dass ich Freude am Lesen gefunden hatte, und immer wenn ich meine kleine Bibliothek betrat, fühlte ich mich ihr nahe und es kam vor, dass ich mit ihr sprach, wenn ich mich an den großen Schreibtisch setzte und in einem Buch blätterte.
    Ich war sehr glücklich darüber, dass Friedrich mir half, den Bestand der Bibliothek zu ergänzen und nach meinem Geschmack zusammenzustellen, so konnte ich mir in meinen einsamen Stunden ein Buch auswählen, um mir damit die Zeit zu vertreiben und meinen Horizont durch neue Gedanken und Sichtweisen zu erweitern. Mehrmals brachte er mir kistenweise Bücher aus Nachlässen an, die er günstig erworben hatte, und weil es sich meist um sehr bunte Mischungen handelte, war mein Fundus bald recht gut sortiert und enthielt neben wissenschaftlichen Betrachtungen und Kunstbüchern die Klassiker derDramenliteratur ebenso wie Gedichte und Romane aus mehreren Epochen und Ländern.
    Amadeus amüsierte sich zwar zunächst über meinen Bildungshunger, sah aber sehr bald die Ernsthaftigkeit, mit der ich mich wie ein Bücherwurm durch die Seiten fraß, und fand schließlich Freude daran,

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