Die dunkle Chronik der Vanderborgs - Estelle
sich von mir am Kamin vorlesen zu lassen und dann das Gelesene zu diskutieren. Er war freilich alles andere als ein Demokrat oder gar Sozialist und meinte zu so manchem Gedicht, welches ich zum Besten gab, dass ich es die Zensur ja nicht hören lassen sollte, denn die Werke von Heine und anderen Achtundvierzigern seien konfisziert und ihre Lektüre verboten. »Du denkst wie ein Adeliger«, sagte ich wütend. »Dein Stand hat nichts gelernt!«
Vielleicht war es der Disput, der zwischen uns darüber erwuchs, jedenfalls verlief unser Beisammensein nicht so harmonisch wie sonst. Zwar liebten wir uns mit Entschiedenheit und Intensität, aber irgendetwas war anders, die gewohnte Verschmelzung unserer Körper gelang nur teilweise, weil unsere Seelen sich nach der heftigen Debatte nicht in gleicher Innigkeit wie sonst berührten. Amadeus schien es nicht einmal bemerkt zu haben, denn erschöpft und befriedigt sank er schließlich mit einem wohligen Grunzen in die Kissen. Ich lag über ihm und saugte seinen Atem ein, der mit leisem Ton seinen Mund verließ. Der Geruch seines schweißbedeckten Körpers war kräftig, vital und von einer gewissen Rauheit, die in der Nase kratzt und zugleich die Eingeweide zum Vibrieren bringt. Die süchtig danach macht, sich diesem Mann zu unterwerfen. Aber im selben Moment fiel mir wieder ein, dass Amadeus von Adel war, und ich geriet in Wut über den Dünkel seines Standes, der auch ihm mitunter noch deutlich anhing.
Mein Blick glitt über sein Gesicht und blieb an seinem Hals hängen. Und diesmal konnte ich die Augen nicht abwenden, wie ich es sonst immer tat, sondern starrte gebannt und fasziniert auf das Blut, welches unter der Haut im Rhythmus des Herzschlags durch seine Schlagader pulsierte. Schon spürte ich den Schmerz in meinem Kiefer, schmeckte bereits süß seinen Lebenssaft auf meinen Lippen und mich durchbebte mit wollüstigem Schauer die Vorahnung unserer letzten und endgültigen Vereinigung.
Ich würde mich Amadeus nicht unterwerfen, sondern ihn mir einverleiben und spucken auf den Adel und jedes Grafengeschlecht! Aber als meine Gier nach seinem Blut so brennend wurde, dass ich mich bereits zum Todeskuss bereit machte, sah ich plötzlich das Gesicht von Utz vor mir, verzerrt von einem höhnischen Lachen. So als wollte er sagen: »Beiß nur zu, dann habe ich gesiegt und musste mich dazu nicht einmal mit deinem Galan duellieren.«
Von Panik befallen sprang ich aus dem Bett, warf mich in meinen Morgenmantel und rannte hinaus in die Dunkelheit, hinunter zum See, wo ich mein Gesicht mit Wasser kühlte. Danach ließ ich den Mantel zu Boden sinken und badete auf dem Steg stehend meinen nackten Körper im Mondlicht.
Das Entsetzen fiel von mir ab und mit ausgebreiteten Armen gab ich mich ganz dem Atem der Nacht hin, und alle Kraft und Stärke, die mir am Tag fehlten, waren plötzlich wieder mein.
Ich richtete mich auf und stieß nur für die Fledermäuse und die Wesen der Nacht hörbar mein Leid in einem befreienden endlosen Schrei in die Welt hinaus. Da kamen sie in Scharen, mich zu trösten, umflatterten mich auf ledrigen Schwingen und sprachen mit mir in ihrer Sprache.
Als schließlich eine Wolke den Mond verhüllte, verschwanden auch sie.
Der Zauber des Augenblicks war vorbei und ich begab mich mit langsamen Schritten zurück zum Gut, wo mein Geliebter unversehrt auf mich wartete und nicht ahnte, wie knapp er dem Tode entronnen war.
Selten war ich mir selbst so nahegekommen wie eben am See, kaum einmal fühlte ich mich so stark und frei, und obwohl diese Erfahrung mich beglückte, zeigte sie mir doch auch eine andere Seite meines Wesens, die animalisch und archaisch war und von der Amadeus nicht das Mindeste ahnte.
Ich hatte an ihm gezweifelt, ihm seine Herkunft vorgehalten. Was hätte er mir nicht alles vorzuwerfen?
Nein, es konnte in der Liebe nicht zählen, woher jemand kam und was er war, sondern nur, wer er war. Ich wollte nie mehr an Amadeus zweifeln, und solange er es auch nicht tat, würden wir in unserer Liebe sicher und geborgen sein.
E s war im Mai des Jahres 1904, kurz nach der Rückkehr von Utz und Radke aus den Kolonien, wo man die beiden leider nicht zu Ovambosuppe verkocht hatte, als mir bewusst wurde, dass ich schwanger war.
Gertrud hatte mich besucht und mich sofort beiseitegenommen, um mich dieserhalb zu befragen.
»Du siehst sehr wohl aus, Estelle, so viel rosiger als sonst, lass mich raten, Liebste, du bist in Umständen?!«
Ich wies diese Vermutung
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