Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa
von schrecklichen Gräueltaten und Verbrechen, an denen auch Mitglieder deiner Familie, ja, auch ich, beteiligt waren. Du weißt, dass wirVampire sind und wie wir uns ernähren …« Er hielt mir das Buch hin. »Willst du es wirklich, Louisa? Willst du es der Gefahr aussetzen, in fremde Hände zu fallen?«
Ich zögerte. Allein, was ich von Lysette gelesen hatte, bot Stoff genug, sie des Mordes und Totschlags anzuklagen. Würde nicht jeder, der las, was sie mit dem Heimleiter gemacht hatte, automatisch annehmen, dass auch ich vor Morden nicht zurückschreckte? Einfach nur, weil ich eine Vanderborg war und sich Gerüchte um andere mysteriöse Todesfälle um das Gut rankten, wie Kommissar Werner gesagt hatte.
Amadeus schien inzwischen schon zu bereuen, dass er mir die Chronik überhaupt zum Lesen gegeben hatte. Denn immer noch hielt er das Buch an sich gepresst und versuchte mir nun sogar jede weitere Lektüre auszureden.
»Vielleicht solltest du sie überhaupt nicht weiterlesen … Es kann sein, dass du mich danach verdammst und mich nicht mehr lieben kannst. Du könntest deine Familie hassen, weil sie dir diesen Fluch hinterlassen hat, der auch dein Leben zerstören könnte, wie er das Leben deiner Ahninnen zerstört hat.«
Das ärgerte mich nun doch, weil ich dieses Zurückrudern kleinmütig fand. Angesichts der Dimension dessen, was mit der Rückkehr von Utz nach Blankensee offensichtlich gerade an mystischer Bedrohung auf mich zukam, fand ich es völlig unpassend, mir die einzige authentische Informationsquelle zu entziehen, die mir über meine Familie und die Auswirkungen des auf ihr lastenden Fluches Auskunft geben konnte – vor allem weil er es aus rein egoistischen Motiven tat.
Das sagte ich ihm auch so, und als er das Buch dennoch nicht herausgeben wollte, fügte ich hinzu: »Ich muss es lesen,Amadeus. Jetzt, wo Utz aufgetaucht ist, noch viel dringender. Ich muss wissen, was mir von ihm droht und warum. Nur wenn ich mehr von ihm weiß, kann ich mich auf ihn einstellen und seiner Blutrache vielleicht entgehen.«
Wir standen uns einen Moment schweigen gegenüber. Amadeus hielt die Chronik immer noch fest umklammert.
»Gib sie mir. Ich werde sie in meinem Schlafsack verstecken. Wenn ich eine Vanderborg bin, dann habe ich auch das Recht und die Pflicht, alles über meine Familie in Erfahrung zu bringen.«
»Hier«, sagte er. »Ich wollte ja, dass du die Chronik liest, aber in Ruhe und im Schutz des geheimen Gewölbes. Aber du hast recht. Das Auftauchen von Utz lässt uns keine Zeit. Lies Estelles Aufzeichnungen, wenn du die Schrift nun entziffern kannst, denn bei ihr nimmt die tragische Geschichte der Vanderborgs ihren Anfang. Es wird dir helfen, die gegenwärtige Gefahr realistisch einzuschätzen … und auch mich . Ich werde kurz nachsehen, wie oben die Dinge stehen, wo Utz abgeblieben ist und was er wohl im Schilde führt.«
Ohne jeden Abschied eilte er davon.
Angespannt stand ich alleine im geheimen Salon, das schwere Buch in den Händen. Ich legte es erst einmal auf die Schreibplatte des Sekretärs. Dann setzte ich mich auf den davor stehenden Stuhl, schlug es mit einem andächtigen Gefühl auf und begann nun endlich, von vorne zu lesen.
Die einsamen Stunden in der WG hatte ich genutzt, um alte deutsche Schriften zu googeln, und ich hatte festgestellt, dass Estelle in deutscher Kurrentschrift geschrieben hatte, einer Anfang des 20. Jahrhunderts noch sehr gebräuchlichenSchreibschrift. In ihr wichen allerdings einige Buchstaben, wie zum Beispiel das »e«, von der lateinischen Schrift stark ab und auch die schnörkeligen Verbindungen zwischen den einzelnen Buchstaben machten sie schwer lesbar. Aber nachdem ich mir diese Abweichungen inzwischen eingeprägt hatte, war es nur eine Frage der Übung, bis ich auch diese Schrift fließend lesen konnte. Der Start war in der Tat noch ziemlich holperig, aber als Amadeus wieder auftauchte, hatte ich zumindest die erste Eintragung von Estelle entziffert.
Blankensee, im Juni 1904
Ich beginne dieses Buch in großer Verzweiflung. Eine dunkle Chronik der Familie Vanderborg, die von jenen berichten wird, welche im Schatten ihr Dasein fristen und Licht und Liebe fliehen müssen, weil sie Tod und Verderben über sie bringen. Ich schreibe es für das Kind, welches ich unter meinem Herzen trage und von dem ich nicht weiß, wer sein Vater ist. Das verabscheuungswürdige Scheusal, mit dem ich verheiratet bin, oder der heimliche Geliebte, von dem niemand wissen
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