Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa
an den Untergang der Liebenden in ihrem Feuer in sich trägt. Doch eben das war es, was ich fühlte, als mich die fleischigen Lippen von Utz berührten … Es war, als hätte ich meine Seele dem Teufel verpfändet, denn ich empfing seinen Kuss nicht mit der Keuschheit der liebenden Frau, sondern gleichsam als Verräterin, die schon vor der Ehe ihren Gatten betrog, weil sie das Antlitz eines anderen vor Augen hatte. Es war das Gesicht des Leutnants Amadeus von Treuburg-Sassen, das sich noch während des Verlobungskusses zwischen Utz und mich gedrängt hatte, und weil ich ihn gegen Vernunft und Verstand so innig begehrte, war mir der Kuss von Utz nur noch eklig und zuwider …
Ich schrak zusammen, als plötzlich Amadeus neben mir stand, so vertieft war ich in die Lektüre, dass ich sein Kommen gar nicht bemerkt hatte.
Mit einer hektischen Geste schlug ich das Buch zu. Er sollte nicht wissen, was ich gerade gelesen hatte.
Aber er wusste es natürlich längst. Dennoch fragte er: »Was hast du gelesen?«
»Estelle, ein Stück von Estelles Aufzeichnungen. Es fällt mir immer noch schwer, ihre Handschrift zu entziffern … ich bin nicht sehr weit gekommen.«
»Weit genug«, sagte er.
»Wie meinst du das?«
»Ich meine, dass du weit genug gekommen bist, um auf meinen Namen zu treffen.«
Ich schaute ihn verblüfft an, weil ich mich wunderte, dass er so normal darüber sprach.
»Äh, ja, das stimmt … Ich war darüber verwundert …«
Amadeus lächelte nun. »Hast du vergessen, was ich dir damals, als dir dieser Name so spontan in den Sinn kam, erzählt habe?«
Ich erinnerte mich dunkel. »Du meinst, dass du gesagt hast, dieser Name habe in der Familie von Treuburg-Sassen Tradition?«
Er nickte. »Eine Namenstradition bedeutet, dass in der Historie einer Familie mehrere Mitglieder diesen Namen getragen haben.«
»Ach so, dann ist dieser Amadeus, von dem Estelle berichtet, also einer deiner Vorfahren? Moment, lass mich überlegen … dein Urgroßvater … nein … dein Ururgroßvater?«
Amadeus wandte sich ab und kehrte mir den Rücken zu, als er sagte: »So ungefähr …«
Er hüstelte irgendwie kränklich und meinte dann, dass ich mich nun aber ein wenig beeilen müsse, wenn meine Abwesenheit oben im Gutshaus nicht auffallen solle.
Ich hätte gerne weitergelesen, aber inzwischen war mir auch selber das Risiko zu groß, die Chronik aus dem geheimen Gewölbe zu entfernen. Sie sollte wirklich keinem Unbefugten, und vor allem nicht Utz, in die Hände fallen – schon gar nicht nach dem, was ich eben erfahren hatte. Wenn er feststellte, dass Estelle ihm schon vor dem Verlobungskuss im Herzen untreu geworden war, würde sein Hass auf die Vanderborgs nur noch größer werden.
»Wie ist die Lage?«, fragte ich, meine Gedanken mühsam wieder auf die Gegenwart richtend.
»Alles ruhig. Keine Spur von Utz und seinen Begleitern.«
»Dann gehe ich wohl am besten jetzt wieder in die Bibliothek.«
Amadeus nickte und begleitete mich hinauf ins Gutshaus.
Doch bevor wir aufbrachen, gab ich ihm die Chronik zurück. »Schließ sie wieder in ihr Geheimfach weg«, sagte ich. »Ich traue mich doch nicht, sie mit nach oben zu nehmen. Die Verantwortung ist zu groß.«
Amadeus nahm sie, dankte mir für meine Einsicht und verbarg sie wieder in Estelles Sekretär.
»Hab keine Angst«, sagte er zum Abschied. »Ich werde über dich wachen. Meine Sinne sind schärfer als die von einem Dutzend Polizisten. Mir entgeht nichts. Ich spüre eine Gefahr, schon lange bevor sie eintritt. Du weißt, ich fühle oft die Energiefelder und Gedanken anderer Wesen und kann darum manche Dinge vorhersehen.«
Ich quälte mir ein Lächeln ins Gesicht. »Das beruhigt mich. Leb wohl.«
Er beugte sich zu mir und küsste mich leicht auf die Wange, dann war er blitzartig verschwunden.
Ich weiß nicht, wie Amadeus es angestellt hatte, aber die Polizisten, die mich überwachen sollten, hatten tatsächlich nichts von meiner Abwesenheit bemerkt.
A
ls am Morgen Kommissar Werner auftauchte, wurden ihm keine besonderen Vorkommnisse in der Nacht gemeldet.
Nun ja, das sah ich zwar anders, aber das musste ihn ja zunächst mal nicht interessieren. Von den Werwölfen undUtz konnte ich ihm schwerlich berichten und auch alles andere der magischen Nacht blieb mein Geheimnis.
»Ich würde gerne bald wieder nach Berlin zurückkehren«, sagte ich. »Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass sich hier so bald etwas tut. Und wenn Tiere meine Freunde getötet haben
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