Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa
gegenwärtig sein, dass mich eine regelrechte Beklemmung befallen hatte und ich bei jedem Schritt, den ich im Gutshaus tat, das Gefühl hatte, dass ich hier nicht sein durfte, dass ich so schnell wie möglich davonlaufen müsste.
Daher war ich froh, dass ich nicht weiter mit Amadeus diskutieren musste, weil vor dem Haus ein Wagen vorfuhr. Ich eilte an die Haustür und sah, wie ein älterer Herr inbeiger Hose und Glencheck-Sakko aus einem ebenfalls nicht mehr ganz jungen Opel stieg.
Ich lief ihm die Freitreppe herunter entgegen.
»Kolopke«, stellte er sich mit einer angedeuteten Verbeugung vor und musterte mich mit alterssichtigen Augen.
»So, Sie sind also die neue Gutsbesitzerin«, meinte er dann trocken. »Kennen Sie Fontane? Wanderungen durch die Mark Brandenburg ? Pflichtlektüre. Sollten Sie lesen, insbesondere den Band über den Spreewald, da kommt auch Blankensee drin vor. Ich borge Ihnen das Buch auch gerne aus, wenn Sie es nicht selbst besitzen.«
Ich musste über so viel lokalpatriotischen Enthusiasmus lächeln. Wie alt mochte er sein? Doch sicher an die achtzig.
»Ich nehme an, dass es in der Gutsbibliothek vorhanden ist«, sagte ich. »Allerdings liegt die noch in Kisten verpackt auf dem Dachboden oder im Keller. Ich werde es mir merken und es als Erstes lesen, wenn die Bücher wieder an ihrem Platz in den Bibliotheksschränken sind.«
Wovon ich in diesem Moment eigentlich nicht ausging.
»Kennen Sie Fontane?«, fragte Kolopke und hielt mich offenbar für einen Kulturbanausen. Das wollte ich doch gleich mal klarstellen.
»Nur die Effi Briest. Er schreibt sehr detailliert, ich erinnere mich an viele Möbel …«
»Ja, ja, da ufert er mitunter etwas aus, aber bei den Naturschilderungen ist sein Stil sehr gefällig, und er hat einen sehr genauen Blick auch für Kleinigkeiten.«
»Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf und ließ sich auf der Bank am Rhododendron nieder. Gedankenverloren sah er zum Gutshaus hinüber.
»Es gab ja so einige Gutsherrinnen vor Ihnen, FräuleinLouisa. Immer Frauen. Das hat die Leute gewundert, dass immer Frauen auf dem Gut das Sagen hatten.«
»War das so?«, fragte ich. »Was ist seltsam daran? Können Frauen nicht genauso gut wie Männer ein Gut führen?«
Er kratzte sich am Kopf. »Können tun Frauen es vermutlich schon, wobei dieses Gut ein sehr großes Anwesen war, zeitweilig sogar mit einem Gestüt. Die Regel ist es nicht, und was nicht die Regel ist, verstößt gegen die gute Ordnung. Das mögen die Menschen nicht.«
»Aha«, sagte ich, »und darum haben die Leute hier also Probleme mit dem Gut?«
»Nicht nur deswegen, aber alles Ungewöhnliche stachelt die Neugier der Menschen an, und dann fällt was auf und es entstehen Gerüchte.«
»Was ist denn aufgefallen? Von was für Gerüchten reden Sie?«
Mit Andeutungen war mir nicht gedient. Wenn er schon hier war, sollte er auch Ross und Reiter nennen.
Wie bei alten Menschen üblich, holte er ein wenig weiter aus. »Ach, wissen Sie, ich bin hier aufgewachsen, in Blankensee, als es noch ein selbstständiges Dorf war. Jetzt ist es ja eingemeindet nach Trebbin. Ein Jammer ist das, aber so sind die Zeiten. Also, ich habe als Kind bereits hier gelebt. Wir haben viel draußen gespielt und im Winter liefen wir Schlittschuh auf dem vereisten See.«
»Das muss schön gewesen sein«, sagte ich und konnte es mir lebhaft vorstellen, wie herrlich es sein musste, mit scharfen Kufen über das Eis zu gleiten, ringsum nur die unberührte Natur.
»Das war es«, stimmte Kolopke mir zu, »aber dann verschwand das Mädchen, die Lisa, beim Schlittschuhlaufen.«
»Ist sie eingebrochen und ertrunken?«
»Das Eis war dick in diesem Jahrhundertwinter und tragfähig. Am Hünengrab hat man Blutspuren gefunden. Sonst nichts. Keine Leiche. Der Vater der Kleinen war so erschüttert, dass er in seiner Verzweiflung die Leute aufwiegelte, und sie marschierten zum Gut, die Eltern der Lisa voran. Die Scheune haben sie angezündet, um ein Fanal zu setzen.«
»Was hatte meine Familie damit zu tun, wenn ein Kind beim Schlittschuhlaufen verloren ging?«, fragte ich empört.
»Das Großsteingrab liegt auf dem Gutsgelände und immerhin war die Irre wieder frei. Diese Amanda. Das hatte man nicht vergessen, was sie der Rieke angetan hatte. Sie wissen ja vielleicht davon. Bis aufs Blut hat sie das Mädchen am Hals gebissen. Die Rieke hat ihr Leben lang davon einen seelischen Schaden behalten. Mit Geld hat der Onkel
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