Die dunkle Chronik der Vanderborgs. Louisa
Gutshaus über mir entfernt.
Das tat gut, aber als sich ein wohliges Gefühl der Schwerelosigkeit einstellen wollte, verbot ich mir das dennoch und sagte mir, dass ich hier war, um zu arbeiten. Um die Geschichte meiner Familie aufzuarbeiten, indem ich die Chronik weiter und am besten endlich zu Ende las. Also ging ich in den Salon hinüber, nahm die Chronik aus ihrem Geheimfach und begann zu lesen.
Bald wanderte ich gehetzt Eintrag für Eintrag durch Estelles Leben und das des Leutnants, zu dem sie in einer unvernünftigen, alle gesellschaftlichen Konventionen missachtenden, ehebrecherischen Liebe entbrannt war.
Die altertümliche Sprache machte mir mitunter das Lesen schwer. Manche Begriffe kannte ich überhaupt nicht, weil sie wohl inzwischen verklungen waren oder eher selten benutzt wurden, aber was sich mir da als tragisches Schicksal meiner Ururgroßmutter Stück für Stück enthüllte, zog mich vollkommen in seinen Bann.
Die Tränen liefen mir über das Gesicht, als ich las, wie Estelles Bruder Friedrich ihr während des Ersten Weltkriegs die Erkennungsmarke ihres Geliebten Amadeus von Treuburg-Sassen nach Blankensee zurückbrachte. Es war das Einzige, was von ihm auf dem Feld der Ehre übrig geblieben war. Estelle wurde fast wahnsinnig über diesen Verlust. Als ihre Tränen versiegten, zog sich der Schmerz nach innen, wo er weiterfraß und ihr Herz zerriss.
Ich beweine den Tod meines Geliebten, doch ich bin tränenlos. Mein Körper weigert sich, ohne ihn weiterzuleben …
Ich litt und liebte mit ihr, und erst als bereits der Morgen heraufdämmerte, konnte ich das Buch aus der Hand legen. Estelles Eintragungen endeten mit dem Tod von Amadeus, und so war mir klar, dass ihr Amadeus nicht auch der meine sein konnte. Sie stand kurz davor, sich das Leben zu nehmen, und allein der Gedanke an ihre Tochter Amanda hielt sie davon ab. Wenigstens in ihr lebte ja immerhin ihr toter Geliebter weiter.
Weil mich das Gelesene sehr erschüttert hatte, beschloss ich, schnell im See ein erfrischendes Bad zu nehmen. Von Utz und seinen mystischen Gefährten sollte mir bei Tag keine Gefahr drohen und von Amadeus war weit und breit nichts zu sehen. Das wunderte mich ein wenig, weil es eine Menge Gesprächsstoff für uns gab, nachdem ich nun Estelles Geschichte kannte. Aber offenbar hatte er sich zu einem Tagesschläfchen zurückgezogen.
Wie kam ich jetzt hier raus? Wieder übermannte mich der Zorn und ich stürmte wütend und ohne anzuklopfen in sein Schlafzimmer.
Doch kaum hatte ich meinen Fuß über die Schwelle gesetzt, blieb ich fasziniert stehen. Amadeus lag auf dem Himmelbett, die Vorhänge waren offen und er sah ganz genauso aus, wie ich ihn in meinen Träumen erlebt hatte.
Das konnte doch alles kein Zufall sein, dachte ich und war mir plötzlich wieder sicher, dass wir auf irgendeine Weise füreinander bestimmt waren. Wobei es mir in diesem Moment fast schon egal war, ob es den Blutkuss einschloss, denn der Anblick des schlafenden Mannes berührte mich zutiefst.
Als ich ihn liebevoll betrachtete, schlug er die Augen auf und sagt: »Entschuldige, Louisa, ich lasse dich selbstverständlich sofort hinaus. Vergiss dein Badetuch nicht.«
Noch halb in Trance schnappte ich mir also ein Badehandtuch und lief hinunter zum See. Er lag glatt und glitzernd in der flirrenden Hitze des Nachmittags. Mir war heiß, wegen des Wetters und weil ich innerlich immer noch sehr aufgewühlt war. Eine Abkühlung würde mir jetzt wirklich guttun.
Ich legte mein Badehandtuch und meine Kleidung auf den Steg und stürzte mich mit einem Hechtsprung kopfüber ins Wasser. Herrlich! Mit kräftigen Zügen schwamm ich hinaus, ließ mich dann auf dem Rücken treiben und sah hinauf in den wolkenlosen Himmel. Was für ein Blau! Ob Fontane das auch so erlebt hatte? Ich nahm mir vor, nach dem Buch in den Beständen im geheimen Gewölbe zu suchen und dann natürlich gleich einmal hineinzulesen.
Gemächlich drehte ich mich wieder auf den Bauch und schwamm mit langsamen Bruststößen zurück. Ich zog mich am Steg hoch und wollte mich gerade tropfnass nach dem Badetuch bücken, als mich knarrende Bohlen und ein leichtes Schwingen des Stegs aufschreckten. Ich fuhr hoch und starrte auf eine in schwarzes Leder gehüllte Gestalt. Mein Herzschlag drohte auszusetzen …
Doch vor mir stand keins von Utz’ Monstern, sondern … Marc. Den hatte ich ja nun zuallerletzt erwartet.
»Was machst du denn hier?«, rutschte es mir entsprechend erstaunt heraus.
Er
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