Die Dunkle Erinnerung
haust.«
Obwohl Alec und Cathy außerhalb Quanticos arbeiteten, nur anderthalb Autostunden von Baltimore entfernt, hatten sie Hotelzimmer genommen. Da die Chance, den Jungen lebend zu finden, mit jeder Stunde geringer wurde, konnten sie keine Zeit mit Fahrten oder gar Schlafen verschwenden.
»Mach ich – sobald wir Cody gefunden haben«, sagte Alec.
»Du musst aber auf Draht sein«, ermahnte ihn Cathy. »Du tust dem Jungen keinen Gefallen, wenn du so erschöpft bist.«
»Wenn wir ihn erst nach seinem Tod finden, tun wir ihm auch keinen Gefallen.«
Seine Schroffheit erschreckte Cathy. Alec spürte es an der Art ihres Schweigens und daran, wie sie einige Sekunden später den Raum verließ. Hoffentlich, um Kaffee zu kochen.
Cathy war eine tüchtige Ermittlerin, sie war scharfsinnig, ging in ihrer Arbeit auf und war auf eine seltsame Weise unschuldig. Selbst nach zweijähriger Tätigkeit als Koordinatorin in der FBI-Abteilung CAC – Verbrechen gegen Kinder – und Ermittlungen mit Alec in ein paar hässlichen Fällen von Kindesentführung hatte Cathy sich ihre Hoffnung nicht nehmen lassen. Alec hingegen hatte die seine schon vor Jahren verloren.
Cathy kehrte zurück und stellte eine dampfende Tasse auf seinen Schreibtisch.
»Danke. Morgen bin ich dran.«
»Ich werde dich daran erinnern.«
Genüsslich sog Alec den Duft des Kaffees ein. Er hoffte, dass das Koffein den Knoten in seinen Gedanken löste. Denn in einem hatte Cathy Recht: Er musste auf Draht bleiben.
»Gibt's was Neues?«, wollte sie wissen.
»Nur neue Fragen.« Alec rieb sich die Wange. »Und das bohrende Gefühl, dass ich etwas Offensichtliches übersehen habe.«
»Wäre es so offensichtlich, wäre Cody jetzt schon wieder zu Hause.«
Cathy hatte Recht. Vielleicht war er wirklich zu erschöpft. Alec wusste nicht mehr, wie viele Stunden er nun schon auf den Beinen war. Auf jeden Fall zu viele. Seit dem Anruf wegen Cody Sanders … Wann war das gewesen? Vorgestern? Die Sache war ihm übergeben worden, weil die CAC-Koordinatoren in der Außenstelle Baltimore schon vollauf mit einem Fall von Kinderpornographie im Internet zu tun hatten. Daraufhin waren Cathy und er von einem Fall aus Chicago hierher abkommandiert worden.
»Gehst du die Sache mal mit mir durch?«, bat er. »Vielleicht entdeckst ja du, was ich anscheinend übersehe.«
Cathy schnappte sich einen Notizblock und setzte sich auf den Tisch vor der Schautafel. »Dann mal los.«
Im Laufe ihrer zweijährigen Zusammenarbeit hatten sie eine Technik entwickelt, ihre jeweiligen Ideen und Theorien beim anderen zu erproben. Jeder hatte seine Stärken und Schwächen; gemeinsam erkannten sie oft Zusammenhänge, die einem allein nicht sofort auffielen. Es war eine hervorragende Partnerschaft, und mit der Zeit verließ Alec sich mehr und mehr auf Cathys Menschenverstand und ihre Einsicht in menschliches, besonders in kindliches Verhalten.
»Also«, begann er. »Cody Sanders, Alter neun Jahre. Viertklässler an der Grundschule.« Er setzte sich neben Cathy auf den Tisch und trank einen Schluck Kaffee. All das hatten sie schon einmal durchgekaut, aber sie würden es immer wieder tun – so lange, bis sie die Teile gefunden hatten, die im Gesamtbild fehlten.
»Nach Aussage seiner Mutter Ellen«, fuhr Alec fort, »hat Cody sich gegen halb acht auf den Schulweg gemacht. Sie sagt, dass an dem Morgen nichts Ungewöhnliches vorgefallen ist. Roy Vasce …«
»Ihr Freund.«
»Hat ihre Geschichte bestätigt.«
»Aber der Ermittler, der Roy Vasce verhört hat«, warf Cathy ein, »glaubt das nicht. Den Aussagen der Nachbarn zufolge verstehen Roy und Cody sich nicht sonderlich gut. Es hat oft lautstarken Streit gegeben.«
»Irgendwelche Anzeichen körperlicher Misshandlung?«
Cathy hob die Schultern. »Dazu hat keiner was gesagt.«
»Hör dich in den hiesigen Krankenhäusern um. Sieh zu, ob du Unfallberichte oder Krankenakten findest, aus denen hervorgeht, dass Cody mit verdächtigen Verletzungen in die Notaufnahme gebracht wurde. Und wende dich an die Schulkrankenschwester. Vielleicht hat sie etwas gesehen. Vielleicht kann sie uns erzählen, ob Roy der Typ ist, dem leicht die Hand ausrutscht.«
»Die hiesige Polizei kümmert sich schon um die Krankenhäuser. Zu der Schwester wollte ich heute.«
»Gut. Die Frage lautet also: Hatten Roy und Cody an jenem Morgen Streit?« Ein Szenario, das viel häufiger vorkam, als die meisten Leute glaubten, und das Alec am meisten hasste. »Und hat Roy sich
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