Die Dunkle Erinnerung
blauen Kleid helfen und zu Bett bringen. »Ich bin sehr stolz auf dich«, sagte Erin. »Ich weiß, wie schwer das gewesen sein muss.«
Claire lächelte gequält. »Ich will nach Hause. In das Haus, wo du mit Janie und Marta wohnst.«
Erin setzte sich neben die Schwester aufs Bett. »Du kommst nach Hause. Sobald sie ihn haben.«
»Versprich es!«
»Wenn du es wirklich willst, verspreche ich's.« Erin strich Claire eine Locke aus dem Gesicht. »Wenn alles vorbei ist, nehme ich dich mit nach Hause.«
Claire lächelte. Langsam fielen ihr die Augen zu. Die Nachwirkung der Medikamente.
Erin blieb bei der Schwester sitzen, bis sie eingeschlafen war. Sie dachte über die Veränderung nach, die sie an Claire bemerkt hatte. Hatte sie erst kürzlich stattgefunden, oder hatte Erin sie bisher nur noch nicht bemerkt? Ihre Beziehung war schon immer angespannt gewesen. Hatte sie die Augen vor der wirklichen Claire verschlossen? Hatte sie nur das psychisch zerbrochene Kind gesehen, nicht die erwachsene Frau?
Eine unbequeme Frage, doch Erin durfte sie nicht einfach übergehen. Dazu gehörte auch, dass sie in ihre eigene verletzte Seele hinabsteigen musste. Und ob ihr gefallen würde, was sie dort fand, war nicht vorauszusagen.
Doch heute Abend war nicht der richtige Zeitpunkt für Grübeleien. Erst musste die Jagd erfolgreich beendet werden.
Erin ging wieder nach unten, wo Cathy Hart damit beschäftigt war, Lebensmittel im Wandschrank zu verstauen. Die FBI-Agentin war eine zierliche blonde Frau, die ein kesser Teenager gewesen sein mochte, nun aber durch die Arbeit bei der Bundespolizei einen ernsten, ja, starren Gesichtsausdruck bekommen hatte. Sie war routiniert und offensichtlich nicht allzu erbaut über Erins Rolle in der Ermittlung. Doch zu Claire war sie nett gewesen, deshalb konnte Erin ihr gern verzeihen.
Als sie Erin in der Tür bemerkte, sagte Cathy: »Jetzt haben Sie Vorräte für mehrere Tage.«
»Danke. Danke für alles.«
»Ich tue das nicht für Sie, Officer Baker, sondern für Ihre Schwester. Kein Kind sollte durchmachen müssen, was sie durchgemacht hat. Und ich werde es nicht zulassen, dass dieses Schwein wieder Hand an sie legt.«
Ich auch nicht, schwor Erin sich im Stillen.
Cathy war mit den Lebensmitteln fertig und eilte nun an Erin vorbei ins Wohnzimmer. Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Die ersten beiden Teams sollten jeden Moment kommen.«
»Und was machen Sie?«
»Ich fahre nach Gentle Oaks, rechne allerdings nicht damit, dass ich etwas finde. Der Magician hat sich wahrscheinlich längst aus dem Staub gemacht.«
»Selbst wenn er da wäre«, betonte Erin, »würden Sie ihn nicht erkennen.«
»Ich nicht. Sie oder Ihre Schwester schon.« Cathy zögerte kurz, dann fügte sie hinzu: »Ich muss wissen, was Sie vorhaben. Werden Sie bei Ihrer Schwester bleiben und die Sache uns überlassen?« Es war zwar als Frage formuliert, klang jedoch so, als wisse Cathy die Antwort bereits.
Erin wandte sich der Fensterfront zu. Die Außenwelt wurde durch schwere grüngoldene, inzwischen verblichene Vorhänge ausgesperrt – unmodische Dinger, auf die man in bürgerlichen Haushalten einst stolz gewesen war.
Sie hatte keine Ahnung, was sie als Nächstes tun sollte.
Ihr Instinkt drängte sie dazu, sich in Nevilles Haus zu schleichen und ihm ein Messer an die Kehle zu drücken. Dann würde er reden. Oder sterben. Doch wem würde das nützen? Claire nicht – und Cody Sanders ganz gewiss nicht.
Erin rieb sich mit der Hand über die Haare. »Ich brauche erst mal ein paar Stunden Schlaf. Dann denke ich mir was aus.«
Cathy sah sie überrascht an.
»Was ist?« Erin musste lachen. »Haben Sie etwa geglaubt, ich wüsste alle Antworten?«
»Nein, aber ich dachte, dass Sie es glauben.«
Erin ließ sich in einen Sessel fallen. »Ich habe keine Antworten, Agent Hart. Ich bin keine Ermittlerin. Ich weiß nicht, wie man Verbrecher fängt oder Falle löst. Dafür bin ich nicht ausgebildet.«
Sie schloss die Augen. Sie war hundemüde. »Ich weiß, wie man jagt. Wie man flieht. Ich weiß Bescheid über das Kämpfen und das Töten. Und das Überleben.« Sie hob den Kopf und schaute die Agentin an. »In diesen Dingen bin ich sehr gut. Aber das hier«, sie machte eine umfassende Handbewegung, »ist eine ganz andere Liga.«
»Warum spielen Sie dann mit?«
»Weil ich nicht loslassen kann. Weil der Hurensohn meine Schwester entführt hat. Ich will, dass er dafür bezahlt. Und ich werde dafür sorgen, dass er keinem Kind
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