Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Dunkle Erinnerung

Die Dunkle Erinnerung

Titel: Die Dunkle Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Lewin
Vom Netzwerk:
kaputtmachen. Sie können mich jederzeit anrufen.«

25.
    Die Stimmen zerrten an ihm. Sie klangen entfernt. Gedämpft. Zogen ihn hinauf zu … zu etwas, an das er sich nicht erinnern konnte. Etwas Wichtigem. Er versuchte, zu den Stimmen vorzudringen, doch auf der anderen Seite lockte die Dunkelheit. Es war ein tiefer Abgrund der Stille, der Frieden versprach und Vergessen, während in den Stimmen Furcht und Erinnerungen mitschwangen, die er besser ruhen ließ. Er schwankte, pendelte hilflos zwischen beiden Welten.
    Schließlich wählte er die Dunkelheit.
    Beim zweiten Mal riss ihn der Schmerz von jenem dunklen Ort los. Stunden mochten vergangen sein, Tage, womöglich Jahre. Er wusste es nicht, und es war ihm gleich. Langsam zog es ihn an die Oberfläche, wo er einen Körper wiederzuerkennen meinte … sein eigener? Verletzt, schmerzerfüllt. Keine Stimmen mehr. Nur die Agonie des Bewusstseins. Wie ein lebendes Wesen, das sowohl von ihm getrennt als auch Teil seiner selbst war. Er konnte sich nicht mehr an ein Leben ohne Schmerz erinnern. Wusste nicht, wo es begonnen hatte. Oder wann.
    Er sehnte sich nach der Dunkelheit, doch sie entzog sich ihm. Bis der Körper sich regte. Und nun schoss der Schmerz wie ein Blitz hindurch, ließ ihn für einen Augenblick zur Besinnung kommen. Und damit kam die Erinnerung.
    Bis die Dunkelheit ihn wieder umschloss.
    Abrupt erlangte Ryan das Bewusstsein wieder. Er schrak hoch. Sofort nahm er die Welt um sich her deutlich wahr. Sein Körper schmerzte bei jedem Atemzug. Er schlug die Augen auf, doch es gab kaum einen Unterschied zwischen der Dunkelheit, die er soeben verlassen hatte, und jener, die ihn jetzt umgab.
    Auch seine Erinnerung kehrte vollständig zurück. Die Entscheidung, endlich zu fliehen. Der Gang zu Codys Zimmer. Die Jagd über das feuchte Gras, vor sich die schwarzen Bäume am Waldrand, die Freiheit versprachen. Der Schatten des Hundes. Seine Zähne, verbissen in Ryans Arm. Cody, der das Tier mit einem Stock angriff. Der Schuss aus dem Gewehr, die Blutspritzer und endlich die Gewissheit, dass ihrer beider Leben gerettet war.
    All dies kehrte wieder wie ein Film, den Ryan lieber nie gesehen hätte.
    Er zog die Leere vor, die schützende Dunkelheit, doch dafür war es jetzt zu spät: Als seine Augen sich an die Finsternis gewöhnt hatten, wurde die Umgebung grau, Konturen schälten sich heraus. Es war keine Gefängniszelle, doch zweifellos eine Art Kerker. Vier Wände aus Stein, ein kalter Betonboden. Eine Tür, deren Riegel er gar nicht erst anzutasten brauchte, denn die Tür war ganz sicher zugesperrt. Kein Fenster. Und ein Feldbett, auf das sie ihn gelegt hatten, damit er das Schicksal erwarten konnte, das der General ihm zugedacht hatte.
    Sie werden mich töten.
    Daran bestand kein Zweifel. Ryan konnte sich nur wundern, dass er überhaupt noch atmete. Vielleicht warteten die stummen Wächter des Hauses nur noch auf den Befehl des Generals. Oder er wollte selbst dabei sein.
    Schon seltsam, dass der Gedanke an den Tod ihn nicht mehr ängstigte. Er war schrecklich müde. Er war es müde zu atmen. Wenn der bloße Wunsch genügte, würde er der Luft verbieten, in seine Lungen zu strömen. Aber dieser Körper – sein Körper, ermahnte sich Ryan – wollte einfach nicht loslassen, hielt ihn in einer Hülle aus Qual gefangen.
    Ryan nahm an, dass er in einem der tiefsten Keller des Landhauses steckte. Er war auch vorher schon im Basement gewesen, einmal hatte er nach einem Kätzchen gesucht, das die Hunde dorthin gejagt hatten. Aber so tief unten im Haus war er noch nie gewesen. Nie war er in Versuchung gekommen, mehr erkunden zu wollen als die unterirdische Speisekammer mit den vielen leckeren Dosen.
    Dann fiel ihm Cody ein.
    Wo steckte der Kleine? In seinem Zimmer? Anzunehmen. Schließlich war er wertvolle Ware und würde ohne Ryans Hilfe nicht entkommen können.
    Plötzlich ein Klappern an der Tür. Ein Schlüssel wurde im Schloss gedreht.
    Ryan machte die Augen zu. Sie sollten lieber glauben, dass er schlief.
    Die Tür schwang auf, quietschte in uralten Angeln.
    »Immer noch am Schlafen.« Eine vertraute Stimme. Die Stimme einer Frau. Die Haushälterin? Ryan wagte nicht, die Augen zu öffnen, um sich davon zu überzeugen.
    Doch der Duft der Speisen reizte ihn.
    »Weck ihn auf. Wir haben nicht viel Zeit.« Eine Männerstimme, nicht unfreundlich. Und nun erinnerte Ryan sich an die gedämpften Stimmen aus seinem Traum.
    Dennoch hielt er ängstlich die Augen geschlossen.

Weitere Kostenlose Bücher