Die Dunkle Erinnerung
mehr wehtun kann.«
Cathy musterte sie einen Moment, dann wandte sie den Blick ab.
Nach einigen Sekunden brach sie das Schweigen. »Soweit ich gehört habe, plant Donovan eine Überwachung von Nevilles Häusern in Georgetown und Middleburg. Ein Mann kann aber unmöglich an zwei Orten zugleich sein. Also könnte er ein zusätzliches Augenpaar gut gebrauchen.«
Erin fühlte, wie ein Knoten in ihrer Brust sich löste.
»Vielleicht möchten Sie aber vorher noch einmal nach Gentle Oaks fahren. Falls der Magician noch dort ist – was ich bezweifle –, können Sie ihn am besten erkennen.«
Nun begriff Erin, dass die Freundlichkeit der FBI-Agentin nicht nur auf Menschen wie Claire beschränkt war, sie bezog auch verletzte Kriegerinnen mit ein. »Das werde ich tun.«
Wieder schaute Cathy sie an und lächelte zum ersten Mal. »Aber erst nehmen Sie mal eine Mütze voll Schlaf.«
Erin schlief wie eine Tote. Vier Stunden, obwohl sie sich nur drei zugestanden hatte. Als sie aufwachte, war es bereits Vormittag. Als Erstes musste sie Janie und Marta in Miami anrufen. Die beiden sollten heute nach Hause kommen, und Erin wollte sie davon abhalten, in den Flieger zu steigen. Aus einem sicheren Haus jedoch durfte man nicht anrufen, denn dies wäre die sicherste Methode gewesen, den Ort zu verraten. Also musste Erin warten, bis sie eine Telefonzelle fand.
Sie ging in Claires Zimmer, doch zu ihrer Überraschung war es leer, das Bett gemacht. Aus der Küche klangen fröhliche Stimmen. Claire stand am Herd und kochte für zwei Fremde, einen Mann und eine Frau, die am Küchentisch Platz genommen hatten.
»Morgen, du Schlafmütze!«, rief Claire, als sie ihre Schwester auf der Schwelle gewahrte. »Möchtest du Frühstück?«
»Ihre Schwester macht tolle Blaubeerpfannkuchen«, sagte der Mann.
Erin war so verblüfft, dass sie nichts erwidern konnte. Sie hätte nie geglaubt, dass Claire schon einmal mit einer Bratpfanne in Berührung gekommen war, geschweige denn, dass sie damit umgehen konnte.
Die Agentin musste Erins Verwirrung gespürt haben, denn sie zog ihren Ausweis hervor. »Entschuldigung, Miss Baker. Ich bin Special Agent Rändle, und dieser Neandertaler hier ist Agent Nolan.«
Der Mann grinste verlegen und wollte ebenfalls in seine Tasche greifen, doch Erin sagte: »Ist schon gut, ich glaube Ihnen. Bin noch ein bisschen groggy.«
»Ihre Schwester kocht guten Kaffee«, sagte Nolan und führte die Tasse an den Mund.
»Klingt verlockend«, erwiderte Erin. Allerdings weilten ihre Gedanken nicht bei Pfannkuchen oder Kaffee, denn plötzlich wurde ihr klar, dass sie in der Eile, Claire vor dem Magician in Sicherheit zu bringen, die Schwester einer ganz anderen Gefahr ausgesetzt hatte. Der Gefahr, dass sie sich selbst verletzte.
Waren diese Agenten überhaupt über Claire informiert werden? Hatte man ihnen gesagt, dass sie unter Stimmungsschwankungen und Depressionen litt, die jederzeit auftreten konnten? Wussten sie, dass Claire äußerlich nichts anzumerken war, dass sie sich aber von einem Moment zum nächsten im Bad einschließen konnte, um sich mit einer Rasierklinge Verletzungen zuzufügen? Erin hatte zu lange mit der Krankheit ihrer Schwester gelebt, um freundlichem Lächeln und kleinen Scherzen zu trauen.
»Ich störe Sie ja nur ungern beim Frühstück, Agent Rändle«, sagte sie deshalb, »aber könnte ich Sie eine Minute unter vier Augen sprechen?«
Rändle stellte ihre Kaffeetasse hin und wollte aufstehen. »Aber sicher.«
»Sie wird Ihnen sagen, dass Sie ein Auge auf mich haben sollen«, schaltete Claire sich ein und sah Erin an. »Stimmt's?«
Erin wünschte, sie könnte es leugnen. »Es tut mir Leid, Claire. Aber du bist jetzt zum ersten Mal außerhalb der Klinik seit … seit langer Zeit.«
Claire hob trotzig das Kinn. »Seit fast sieben Jahren.«
»Ja.« Und Erin spürte die Last dieser Jahre, die Qual von Claires geschädigtem Leben.
»Meine Schwester hat Angst, dass ich wieder anfange, mich zu schneiden«, erklärte Claire den FBI-Agenten, die das Gespräch staunend verfolgt hatten. »Und sie hat Recht.« Wieder schaute sie Erin an. »Ich kämpfe dagegen an, glaub mir. Ich kämpfe jede Minute jedes Tages dagegen an.«
Tränen stiegen Erin in die Augen. Ihr Herz blutete für die Schwester und den Albtraum, den sie zu ertragen hatte.
»Also«, fuhr Claire fort und wandte sich wieder an die anderen, »sie will, dass Sie mich ganz genau beobachten.« Sie hielt inne, schaute vom einen zum anderen,
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