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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armin Oehri
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recht geben mit seinen Ideen vom
Proletariat. Wenn man in so einer Gegend wohnt und aufwächst, gerät man früher oder
später unweigerlich auf die schiefe Bahn.«
    »Wenn ich
dir nun aber sage, dass der mutmaßliche Täter ein Professor der Philosophie ist,
würdest du dann deine Meinung ändern?«
    Der Fotograf
wandte ihm den Kopf zu. Seine Neugier war geweckt.
    »Erzähl!«
    Bentheim
nahm einen Schluck aus der Flasche und berichtete, was in der Nacht geschehen war.
Als er seine Ausführungen schloss, kratzte sich Albrecht nachdenklich an der Schläfe.
Schweigend verfolgten sie das Geschehen um sie herum und sahen den Fußgängern und
Droschken hinterher.
    »Morgen
muss ich die Sektion dokumentieren«, meldete sich Krosick nach einer Weile zu Wort.
»Horlitz hat darauf bestanden. Willst du dabei sein? Ich könnte das arrangieren.«
    Julius wollte
erst abwinken, besann sich aber anders. »Wann ist der Termin?«
    »Um zehn.«
    »Bis zum
frühen Abend hätte ich Zeit. Danach habe ich bereits ein anderes Rendezvous geplant.
Eines mit einer viel lebendigeren Frau.«
    »Mit dem
werten Fräulein Sternberg?«
    »Ja, mit
Filine.«
    Albrecht
verzog den Mund zu einem mokanten Lächeln.
    »Wenn du
mich fragst, erscheint mir die keusche Pastorentochter noch kühler und steifer,
als es die olle Lene jetzt ist.«
    »Gut Ding
will Weile haben, Albrecht. Und du bist einfach geschmacklos. Unverbesserlich und
geschmacklos.«
    »Ich weiß.«
    Die Freunde
sahen sich an, und als ob sie es eingeübt hätten, begannen sie synchron zu schmunzeln.

Viertes Kapitel
     
    Kurz vor 10 Uhr des nächsten Tages ließen
Julius Bentheim und Albrecht Krosick das große Universitätsklinikum an der Zieglerstraße,
das in unmittelbarer Nachbarschaft zur Berliner Charité lag, hinter sich. Sie schritten
munter aus und fanden sich pünktlich im Eingangsbereich der alten militärärztlichen
Schule ein. Im Gepäck hatten sie einen Fotoapparat, mit dem Daguerreotypien hergestellt
werden konnten, sowie mehrere Kollodium-Nassplatten, um die fotografischen Bilder
noch an Ort und Stelle zu erzeugen. Julius kam sich wie ein Packesel vor, den man
mit Textilballen und Tand beladen hatte. Auf seinem Rücken trug er mehrere Bahnen
schwarzen Stoffs, die für ein Dunkelkammerzelt benötigt wurden.
    »Du weißt,
dass das früher das Pesthaus war?«, bemerkte Albrecht unbeschwert, als sie die Schwelle
übertraten.
    »Habe schon
davon gehört.«
    Sie gingen
einen Korridor entlang, vorbei an Ärzten und Pflegerinnen, und bogen in das Treppenhaus
ab. Dort nahmen sie die Stufen ins Kellergeschoss. Das Gaslicht war hier viel zu
stark aufgedreht, sodass der Gang grell beleuchtet war. Der Schattenriss, der plötzlich
aus einem Zimmer trat, entpuppte sich im Gegenlicht als Gideon Horlitz. Mit ernster
Miene näherte sich der Kommissar und reichte den Studenten die Hand.
    »Schön,
dass Sie beide gekommen sind. Folgen Sie mir.«
    Er begleitete
sie bis ans Ende des Ganges, wo er eine schwere Eichentür öffnete, die in den Sektionssaal
führte. Der Boden fiel zu einer Abflussrinne hin leicht ab und war mit hellbraunen
Fliesen ausgelegt, die an allen vier Wänden bis auf Hüfthöhe emporreichten. Ein
Geruch von Seife und Chemikalien erfüllte die Luft, durchmischt von Räucherkegeln,
die nach Burgunderharz und Eichenmoos dufteten. Zehn Tische waren in zwei Reihen
in der linken Raumhälfte angeordnet. Es war hier ganz anders als oben, wo sich in
den nächsten Stunden die sommerliche Wärme entfalten würde. Julius empfand die Kühle,
die ihn umgab, als angenehm.
    Die Tische
besaßen die Maße 70 auf 220 Zentimeter. Ihre gezimmerten Holzbeine waren dick mit
wasserabweisender Farblasur bestrichen, ihre Platten bestanden aus irgendeinem glatt
geschliffenen Steinmaterial. Diagonal waren sie leicht abgeschrägt, sodass zum Abfluss
hin ein Gefälle existierte. Gut die Hälfte von ihnen war belegt. Menschliche Körper
zeichneten sich unter weißen Laken ab. Nur die Leiche auf dem vordersten Tisch lag
nackt und unbedeckt da: Es waren die sterblichen Überreste von Lene Kulm. An einem
Waschbecken in der anderen Raumhälfte standen ein groß gewachsener Mediziner in
den Vierzigern und ein Jüngling, sein Assistenzarzt. Beide hatten sich Kittel übergezogen
und waren damit beschäftigt, die Hände mit Chlorlösung zu desinfizieren, als die
drei Neuankömmlinge den Sektionsraum betraten.
    »Ah, Inspektor«,
grüßte der Arzt freundlich. »Pünktlich wie eh und je. Sie haben etwas von

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