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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armin Oehri
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Immanuel
Kant. Auch nach Ihnen könnte man die Uhr stellen.«
    Horlitz
nickte gutmütig, als er an den Seziertisch trat.
    »Wo soll
ich den Apparat aufbauen?«, wollte Krosick wissen, während er seine Utensilien auf
einer leeren Tischplatte ausbreitete. »Möchten Sie eine Aufnahme von der Seite oder
vom Fußende?«
    Der Doktor
näherte sich ihm, die Hände mit einem Tuch abtrocknend, und schmunzelte wissend.
»Von der Seite, junger Mann, immer von der Seite. Ihre Schuhe werden es Ihnen danken,
wenn Sie nicht in den Ausscheidungen der Leiche stehen.«
    Irritiert
blickte der Fotograf ihn an. Er senkte den Blick zum Boden, sah wieder auf und nickte
plötzlich verstehend. Mit Nachdruck stellte Krosick das dreibeinige Kamerastativ
neben den Seziertisch und platzierte den Apparat mittels Schnallen auf der Abstellfläche.
Vorn an das Gehäuse schraubte er ein Objektiv. Er benutzte eines, das von Petzval
und Voigtländer entwickelt worden war und als besonders lichtstark galt, denn die
Belichtungszeit lag bei etwas weniger als einer Minute.
    Julius Bentheim
betrachtete indessen aufmerksam den Arzt, der sich an den Kommissar gewandt hatte
und in ein Gespräch mit ihm vertieft war. Der Mediziner war von stattlichem Körperbau
und besaß einen gepflegten Vollbart. Seine langen Haarsträhnen waren akkurat nach
hinten gekämmt und verdeckten die lichten Stellen auf dem Hinterkopf. Bentheim hatte
Porträts dieses Mannes bereits in den Zeitungen gesehen: Er hieß Rudolf Virchow
und war als Abgeordneter für die Deutsche Fortschrittspartei in den Preußischen
Landtag gewählt worden. Als Pathologe hatte er in letzter Zeit mit der Herausgabe
von drei Büchern Aufsehen erregt, in denen er 30 Vorlesungen zum Thema der krankhaften
Geschwülste zusammenfasste.
    Virchow
beugte sich über Lene Kulms Leiche und zeigte mit dem Finger auf gelblich-blaue
Verfärbungen an ihrer Bauchoberfläche.
    »Sehen Sie
das, meine Herren?«
    Die Tote
war bereits gewaschen worden. Dennoch entströmte ihr ein übler Geruch. Ein einziger
gewaltiger Schnitt gewährte einen Blick in ihre Eingeweide. Die zehn weiteren schmalen,
langen Streifen waren alles, was von den übrigen Stichwunden zeugte. Und dann war
da noch die tiefe Wunde am Hals. Horlitz und Bentheim betrachteten die Stelle, die
Virchow bezeichnet hatte: Sie glich der zerfledderten Bespannung einer Trommel.
Zwischen den einzelnen Hautlappen und Hautfetzen schimmerten schmutzige Flecken
auf.
    »Die sind
älteren Datums.«
    »Was heißt
das genau?«
    »Damit will
ich sagen, dass diese Blutergüsse nicht aus der Mordnacht stammen. Wenn der Exitus
eintritt, erlöschen erst mal die Körperfunktionen. Blutgerinnsel, die von Schlägen
stammen, bauen sich normalerweise innerhalb einer gewissen Zeitspanne ab. Sie alle
kennen dies. Sie stoßen sich irgendwo und bekommen blaue Flecken, dann wechseln
diese die Farbe. Das ganze Spektrum: gelb, grünlich, braun. Diese Hämatome sind
jedoch schon leicht fortgeschrittenen Stadiums.«
    »Jemand
hat sie also geschlagen?«
    Der Arzt
hob den Kopf und nickte bekümmert. »Vermutlich nicht nur einmal, sondern regelmäßig.
Aber das ist nichts Neues. Immer wieder weise ich auf die Misere hin. Diese armen
Menschen hausen teils wie die Tiere, eingepfercht in Mietskasernen, unter Unrat
und mitten in den Brutstätten von Krankheiten und Seuchen. Keime vermehren sich
in dieser Umgebung rasant. Seit Jahr und Tag protestiere ich vor dem Stadtrat dagegen.
Eine schlechte Umwelt färbt auf den Charakter des Menschen ab. Auch Sie, meine Herren,
würden in so einer Umgebung streitlustig und schließlich gewalttätig werden. Man
verroht dort.« Virchow hielt inne, tupfte sich mit der Handfläche den Schweiß von
der Stirn und schnaubte temperamentvoll. Gebieterisch wandte er sich an die jungen
Studenten: »Stellen Sie Ihre Dunkelkammer auf, machen Sie Ihre Aufnahmen, während
ich die Instrumente anordne.«
    Albrecht
Krosick gab Julius ein Zeichen. Dieser entrollte das schwarze Stoffbündel. In der
Mitte einer Tuchbahn befand sich ein unscheinbares kreisrundes Loch. Durch dieses
schob Bentheim das Objektiv und stülpte den Stoff danach von vorn über den Fotoapparat.
Krosick begutachtete das provisorische Zelt, das entstanden war, und als er sich
davon überzeugt hatte, dass es keine lichtdurchlässigen Stellen mehr gab, kroch
er darunter. Er bat seinen Freund, ihm die Tasche mit den Kollodiumplatten nachzureichen,
und öffnete diese schließlich in völliger Dunkelheit. Unter seinem

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