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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armin Oehri
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»Machen
Sie hiervon ein Foto. Es ist zwar ein melodramatischer Bühneneffekt, aber wenn es
hilft, den Täter seiner gerechten Strafe zuzuführen, soll es mir recht sein.«
    Albrecht
richtete das Objektiv neu ein und kroch in sein Dunkelzelt.
    Als die
Daguerreotypie gemacht war, widmeten sich die Mediziner wieder ihrer Arbeit. Sie
fanden die Stellen, an denen die Stiche den glatten Schlauch des Dünndarms und die
Oberfläche des ausgebuchteten Dickdarms verletzt hatten. Teilweise war die Längsmuskelschicht
angeritzt, an mehreren Stellen war sie gänzlich durchtrennt. Als sie die Tote weiter
ausnahmen, bemerkten sie auch zerfetzte Magenmuskeln.
    »Zerstörter
Ventriculus«, diktierte der Pathologe. »Sein Inneres ist ausgelaufen. Durchschnittliches
maximales Fassungsvermögen liegt bei etwas mehr als zwei Litern. Da nur wenig Speisebrei
erkennbar ist und auch die sonst üblichen geruchlichen Absonderungen noch relativ
schwach ausfallen, liegt der Verdacht nahe, dass das Opfer in den Stunden vor der
Ermordung wenig gegessen und getrunken hat.« Er setzte das Skalpell bei der Speiseröhre
und dem Dünndarm an, um den Magen abzuschneiden, und hob ihn anschließend hoch.
»Da ist es«, bemerkte er und entnahm der Leiche einige teilweise noch unverdaute
Essensreste. »Wie gesagt, nicht gerade viel. War wohl ein Kanten Brot mit Schinken.
Gehen wir über zur Leber …«
    Albrecht
Krosick stieß Julius verschmitzt in die Seite. »Leber, Julius, hast du gehört? Das
schreit geradezu nach einem Leberreim, meinst du nicht auch?«
    Virchow,
der große Wissenschaftler, hob sein Haupt und starrte die zwei jungen Menschen an.
Bentheim sah bereits eine Standpauke wie ein Donnerrollen herannahen. Doch statt
mit einer sittenstrengen Moralpredigt aufzuwarten, überraschte ihn der Arzt mit
seiner saloppen Unbefangenheit. Er legte die Stirn in Falten, als ob er angestrengt
nachdächte, und improvisierte nach alter Tradition ein Gedicht aus dem Stegreif:
»Die Leber ist von einer Toten und nicht von einer Blinden. Wir schneiden sie sogleich
in Stücke, um die Todesart zu finden.«
    »Bravo!
Hört, hört!«, erklang es aus den Mündern der jungen Leute, und auch Gideon Horlitz
applaudierte. »Wahrlich, es gibt nichts Deutscheres als einen Leberreim.«
    Der Pathologe
verbeugte sich in gespielter Affektiertheit und widmete sich nach dieser kurzen
Unterbrechung wieder seiner Arbeit. Mehr als drei Stunden lang verfolgten die Zuschauer
mit äußerster Konzentration die Leichenschau. Julius Bentheim vergaß darüber gar
die Vorfreude auf seine Verabredung. Hin und wieder wurden sie angehalten, eine
Daguerreotypie herzustellen. So fotografierten sie die einzeln entnommenen Organe,
die man in Waagschalen platziert hatte, und schossen zu guter Letzt ein Foto von
Lene Kulms wieder zusammengenähtem Leichnam.
    »Freitagnachmittag«,
bemerkte Virchow abgekämpft. »Zeit für eine Zigarrenpause. Kommen Sie, begleiten
Sie mich in mein Büro. Kamera und Kollodiumplatten können Sie nachher noch holen
gehen, sobald die Bilder trocken sind.«
    Sie ließen
den Assistenten allein zurück, da er für die Nachversorgung zuständig war, und folgten
dem Pathologen den Flur entlang. Er geleitete sie zu einem Raum im Erdgeschoss,
der die gleiche Größe wie der Seziersaal haben mochte, aber ungleich kleiner wirkte,
da er zum Bersten mit ethnologischen und anthropologischen Präparaten angefüllt
war. Julius verschlug es angesichts Virchows Sammlung die Sprache. An Drahtgestellen
hatte man menschliche Skelette aufgehängt, Dutzende von Totenschädeln lagen in wilder
Unordnung teils auf dem Fußboden, teils auf Bücherstapeln. Mit der Hand wischte
der Forscher einen mit schiefen Zähnen versehenen Unterkieferknochen von einer Zigarrenschachtel,
um diese seinen Gästen hinzuhalten.
    »Greifen
Sie zu. Echte Partagas. Ein unvergleichlicher Genuss, dafür verbürge ich mich.«
    Sie zündeten
sich die Zigarren an und taten genussvoll ein paar Züge. Rauchkringel schwebten
zur Decke, wo sie sich schwadenartig ausbreiteten und ein schweres, erdiges Aroma
verströmten. Die vier Männer standen sich inmitten blank polierter Gerippe gegenüber
und gaben sich den Sinnenfreuden hin.
    »Wann erhalten
wir den Bericht?«, brach Horlitz schließlich das Schweigen.
    »Sie haben
es eilig, Herr Kommissar?«
    »Karl Otto
von Leps, der Untersuchungsrichter, sitzt mir im Nacken. Ich habe böse Vorahnungen
bei der ganzen Angelegenheit. Bereits gestern bei der Überstellung der Leiche

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