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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armin Oehri
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schwarzen Laken
glich er einer Gespenstererscheinung und sein Hantieren und die klackenden Geräusche
erinnerten an die Seufzer gepeinigter Seelen. Ein Sezierraum war nun mal ein gruseliger
Ort, der einen zu solchen Assoziationen verleitete.
    Wenige Einstellungen
später klickte es zum ersten Mal. Albrecht betätigte den Auslöser. Der Geruch von
Silberjodid erfüllte den Raum. Nach jeder Belichtung wartete der Fotograf mindestens
eine Minute, bis er die jeweilige Platte unter dem Tuch hervorschob. Vorsichtig
hob Julius die Fotografien eine nach der anderen auf und trug sie zu den Seziertischen,
wo er sie an die hölzernen Beine lehnte, damit sie noch geraume Zeit trocknen konnten.
Für den jungen Tatortzeichner ging ein ganz eigentümliches Flair davon aus. Es war
keineswegs die Faszination des Todes, die den Reiz dieser Fotografien ausmachte.
Das Motiv der Bilder war nebensächlich, aber ihr klarer Glanz, ihre feine Linienführung
waren bestechend. Kein Wunder, hatte der französische Dichter Baudelaire gespottet,
die Fotografie werde sich zum Zufluchtsort gescheiterter Maler entwickeln, die entweder
in ihrer Kunst versagt hatten oder einfach zu faul waren: Rein gar niemand konnte
so realitätsnah malen!
    Nach einiger
Zeit kroch Albert aus seinem Zelt hervor und richtete sich auf. Sein Rücken knackte
und er massierte seine Wirbelknochen. »Geschafft!«, meinte er.
    »Sie war
ja auch ein artiges Modell«, brummte Rudolf Virchow.
    Kommissar
Horlitz, der den makabren Schalk der Mediziner bereits seit Jahren kannte, reagierte
nicht. Die Studenten jedoch sahen sich mit großen Augen an und auf Krosicks Gesicht
breitete sich ein Lächeln aus. Der Pathologe war ganz nach seinem Geschmack.
    Virchow
reichte eine Dose im Kreis herum und forderte seine Gäste auf, sich zu bedienen.
»Eine Emulsion aus tierischen Fetten und Duftstoffen«, erklärte er. »Die schmieren
Sie sich unter die Nase, um den Leichengeruch abzuschwächen. Und nun beiseite, meine
Herren.« Er winkte seinen Assistenten heran, der ein silbernes Tablett mit medizinischen
Sonden, Sägen und Skalpellen auf einem fahrbaren Beistelltisch deponierte. »Zollstock«,
befahl er kurz und bündig.
    Der junge
Arzt übergab ihm einen äußerst dünnen Eisenstab, der in regelmäßigen Abständen mit
Zahlen beschriftet war. Gleichzeitig griff er nach einem Klemmbrett und einem mit
einer Schnur daran befestigten Grafitstift. Rudolf Virchow maß die Länge der Wunden
und diktierte die Ergebnisse. Dann platzierte er seine Finger an den Wundrändern
und spreizte sie sacht. Vorsichtig führte er den Stab in die klaffende Öffnung,
bis er auf leichten Gegendruck stieß.
    »Hat sich
der Darm der Toten nie bewegt?«, wollte Bentheim wissen. »Sie wurde doch transportiert
und dabei vermutlich auch geschüttelt.«
    »Gute Bemerkung«,
meinte Virchow und wandte sich an Horlitz: »Sie haben da ein aufgewecktes Bürschchen
an der Angel.«
    Der Kommissar
erklärte: »So wird die Minimallänge der Tatwaffe gemessen. Weitere Abklärungen verschafft
dann die Leichenöffnung.«
    Die beiden
Ärzte gingen dazu über, Lene Kulms Kopf zu scheren, indem sie erst die langen Haare
abschnitten und anschließend die Stoppeln rasierten. Sie inspizierten die kahle
Kopfhaut und vermerkten auf ihrem Blatt, dass keine Hinweise auf eine Schädelverletzung
ersichtlich waren.
    »Skalpell«,
sagte Virchow. »Achtung, meine Herren, jetzt wird es theatralisch!«
    Nacheinander
machte er zwei lange halbkreisförmige Schnitte, die er etwas oberhalb des Nabels
ansetzte und in voneinander entgegengesetzten Richtungen um den Bauch zog, bis sie
am Ansatz der Schamgegend wieder zusammentrafen. Julius wunderte sich über die Beschaffenheit
menschlichen Fleisches. Es hatte den Anschein, dass es wie ein Stück Schweineschnitzel
zu schneiden war. Der Doktor bohrte die Fingerkuppen in die Bauchhöhle und fuhr
langsam die Ränder entlang, bis sich die Bauchdecke ablöste wie die erkaltete Zuckerglasur
von einem Kuchen. Trotz der Emulsion kroch den Männern der Gestank in die Nase.
Ein schmatzendes Geräusch ließ sich vernehmen, als drei, vier Darmschlingen auf
die Tischplatte rutschten. Der Assistent fing sie auf und ließ sie prüfend durch
die Finger gleiten.
    Gleichzeitig
präsentierte Rudolf Virchow den abgetrennten Hautfetzen, indem er ihn wie ein Laken
hochhielt, das man für ein Silhouettentheater verwendet. Im Gegenlicht zeichneten
sich deutlich die Spuren ab, die Botho Goltz’ Messer hinterlassen hatte.

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