Die dunkle Muse
habe
ich Sie über die Sachlage aufgeklärt, Doktor. Was meinen Sie? Wieso bringt ein angesehener
Philosophie-Professor eine Dirne um?«
»Ein Lustmord?«
»Keine Anzeichen
auf ungewollten Geschlechtsverkehr. Außerdem haben Sie eben noch festgestellt, dass
sie ihre Periode hatte.«
Virchow
schüttelte den Kopf. »Sie haben mich nicht verstanden, Horlitz. Ein Lustmord muss
nicht unbedingt etwas mit dem Geschlechtsakt zu tun haben. Für manch verirrte Seele
bedeutet es Lustgewinn, Menschen leiden zu sehen. Ins Pervertierte gesteigert, kann
die totale Lust darin bestehen, das Sterben hautnah mitzuerleben. Der Blick in die
langsam erstarrenden Augen wird zum höchsten der Gefühle.«
»Müsste
man in diesem Fall das Opfer nicht eher erwürgen als erstechen?«, warf Julius ein.
»Ja, das
müsste man wohl.«
»Sehen Sie,
Virchow, da liegt mein Problem. Wie man es dreht und wendet, ich werde nicht schlau
aus der Angelegenheit. Überdies hat dieser Goltz seinen Pflichtverteidiger damit
beauftragt, eine Tatortbegehung zu beantragen. Ich habe wirklich ein ungutes Gefühl
dabei, ein ganz ungutes Gefühl.«
Er zog an
seiner Partagas, bis der Tabak beinah weiß glomm, und blies den Rauch durch die
Nase. Wortlos standen die Männer da und hingen ihren trüben Gedanken nach.
Fünftes Kapitel
Julius Bentheim schlug seinem
Freund vor, die Kamera nach Hause zu tragen. Albrecht, der zusammen mit Kommissar
Horlitz die Fotoplatten im Polizeipräsidium am Molkenmarkt abliefern wollte, nahm
das Angebot dankend an. Der junge Tatortzeichner spazierte nun beschwingt zur Wohnung
der rüstigen Offizierswitwe, wo er die Sachen seines Freundes vor dessen Zimmertür
abstellte. In seinem eigenen Zimmer wusch er sich und zog sich um. Die Kleidung,
die er getragen hatte, warf er im Gang in einen Waschzuber, den die Vermieterin
freundlicherweise ihren Hausgästen bereitstellte. Noch immer hatte er das Gefühl,
den Geruch aus der Pathologie, diese schreckliche Mischung aus Chemie und Tod, in
der Nase zu haben.
Als er –
in eine prächtige Studentenuniform in den alten preußischen Farben Schwarz und Weiß
gewandet – die Treppe hinabging, vertrat ihm eine ältere Dame den Weg. Sie trug
schlichte, doch stilsichere Alltagskleidung mit hoher Taille und hatte das Haar
mit einem Seidenhut bedeckt, der an die vor einem halben Jahrhundert verstorbene
und noch immer verehrte Königin Luise erinnerte. Wie die modebewusste Monarchin
sah auch Witwe Amalia Losch umwerfend aus.
»Stehen
geblieben, junger Mann«, befahl sie gebieterisch. »Wohin des Weges?«
»Zu einem
Studententreffen?«, murmelte Julius unsicher.
Mit einer
resoluten Handbewegung wischte sie die Bemerkung aus dem Raum. »Unsinn! Zu einem
Stelldichein, Herr Bentheim. Ist es nicht so?«
Kleinlaut
nickte er. Dass der Alten nicht beizukommen war, wusste er längst.
»Werden
Sie vom Vater der Dame empfangen?«
»Ich glaube
schon.«
»Glauben
ist etwas für Waschweiber und Bettnässer, Bentheim. Nun? Wie steht die Sache?«
»Der Herr
Vater sollte anwesend sein.«
»Werden
Sie im Hause verweilen?«
»Eher nicht«,
antwortete Julius. »Filine möchte einen Spaziergang unternehmen. Das Wetter ist
angenehm.«
»Mit Anstandsdame?«
»Mit Anstandsdame«,
wiederholte Julius.
»Das ist
schlecht.« Mit zwei spinnenartigen Fingern umspielte Amalia ihr Kinn. »Ich drücke
trotzdem die Daumen, Bentheim! Bringen Sie Süßigkeiten mit. Das stimmt die Gouvernante
gnädig. Mein alter Theobald – Gott hab ihn selig – hat das stets so gemacht und
letzten Endes waren wir verheiratet.«
Bentheim
versicherte ihr, den Rat zu beherzigen. Ein Schimmer der Zufriedenheit zog über
das Gesicht der Witwe, als sie sich in Erinnerungen an alte Zeiten verlor. Der Tatortzeichner
verabschiedete sich und sie drückte ihm fest die Hand.
Julius Bentheims
Ziel lag am südlichen Rand des Großen Tiergartens. Künstler, Wissenschaftler und
höhere Beamte hatten dieses Quartier in Beschlag genommen, weshalb es in der Bevölkerung
vor allem unter dem Namen Geheimratsviertel bekannt war. Großbürgerliche Stadtvillen
reihten sich aneinander und im Hintergrund überragte der dreischiffige Bau der St.
Matthäikirche mit seinen Giebeln und Satteldächern die Häuser.
Seine Schritte
führten den jungen Mann an die Schwelle eines zweistöckigen Gebäudes, hinter dessen
Mauern die junge Filine Sternberg mit ihrem Vater wohnte. Auf der dem Bürgersteig
abgewandten Seite besaß das Haus einen Garten, welcher weit nach
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