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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armin Oehri
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hinten auslief.
Von dort aus betrachtet, lag das Anwesen stets still da, behütet von einer bis zu
acht Fuß hohen Gartenmauer. Inmitten des Rasens war ein Zierteich angelegt, umsäumt
von Böschungen, die mit Rhododendren bepflanzt waren, in unmittelbarer Nachbarschaft
zu einer Gartenlaube. Alles wurde von einer riesigen Linde überragt, deren weit
ausgreifende Äste Schatten spendeten.
    Die Schönheit
dieses abgeschiedenen Ortes, wo man sich vor der Welt zurückziehen konnte, hatte
etwas Biedermeierliches an sich und wollte so gar nicht zu dem Bild passen, das
sich Julius von dem Hauseigner gemacht hatte: Pastor Gottfried Sternberg war ein
hagerer 40-jähriger Mann mit bleichem Gesicht. Meist verkroch er sich in seinem
Studierzimmer, wo er religiöse Traktate las, sich dem Studium der Heiligen Schrift
oder seiner Arbeit widmete, der Abfassung einer Lebensbeschreibung des Heiligen
Thomas in lateinischer Sprache. Er war ein der Gesellschaft abgewandter Mensch,
der einzig vor seiner Kirchgemeinde auflebte – dies aber auch nur in bescheidenem
Maße. Dass ihn sein Kirchsprengel ins Herz geschlossen hatte, lag weniger an seiner
spröden Art als vielmehr an seiner Tochter. Er hatte sie allein aufgezogen, nachdem
ihre Mutter bei der Geburt gestorben war, und die Erziehung war ihm aufs Trefflichste
gelungen: Filine war sittsam und liebenswürdig, grüßte jeden und kleidete sich mit
Anstand. Die 16-Jährige war die unangefochtene Venus des Viertels, von den Herren
bereits mit heimlichen Blicken gemustert und von den Damen, die längst das allmähliche
Aufblühen ihrer Grazie ahnten, neidisch beobachtet.
    Julius hatte
sie vor einem Jahr bei einer Straßenfeier kennengelernt, als sie auf Geheiß ihres
Vaters Heiligenbilder an die Passanten verteilte. Die Porträts waren so dilettantisch
gefertigt, dass sich die Künstlerseele in Julius empörte. Getrieben vom schöpferischen
Ehrgeiz, es besser zu können, war er mit Filine ins Gespräch gekommen und hatte
ihr angeboten, eine Serie von Ikonen zu malen und sie ihr zur Verfügung zu stellen.
So fand er Zutritt zum Haus des Pastors. Dass sich Filine und er inzwischen innig
zugetan waren, war ein Geheimnis, das sie beide sich einzig gegenseitig offenbart
hatten. Ihr Vater, der hagere Kirchenmann, sah mit Missbehagen die Vertrautheit
zwischen den jungen Menschen. Doch es war zu spät. Den Jüngling des Hauses zu verweisen,
ohne dass etwas Schwerwiegendes vorgefallen war, wäre eine Unschicklichkeit gewesen
und in den Augen der Öffentlichkeit nicht zu rechtfertigen.
    Bentheim
zog die Klingelschnur und pochte zur Sicherheit mit der Faust drei Mal an die Tür.
Dumpf vernahm er sich nähernde Schritte. Der Hausdrachen, dachte er grimmig. Hat
man ihn also von der Kette gelassen?
    Als der
Riegel weggeschoben wurde und sich die Tür langsam nach innen öffnete, setzte er
sein freundlichstes Lächeln auf. »Einen angenehm schönen guten Abend wünsche ich
Ihnen, hochgeehrtes Fräulein Lembke«, begrüßte er die Haushälterin, die mit grober,
verbissener Miene vor ihm stand. »Ach, ist es nicht wunderbar, wenn die Vöglein
trillern, die Grillen zirpen und die Rehlein im Wald über die Bächlein von Lichtung
zu Lichtung hüpfen? Über allen Gipfeln ist Ruh, wie der Dichter sagt.« Mit diesen
Worten reichte er ihr eine Schachtel Konfekt, die er unterwegs auf Amalias Fingerzeig
hin in einer Zuckerbäckerei erstanden hatte.
    Finster
blickte die Frau ihn an, als sie die Pralinen und Fondants entgegennahm. Sie wussten
beide, wo sie standen und was sie voneinander zu halten hatten. »Geben Sie mir Ihren
Mantel, Herr Bentheim. Danach lasse ich Sie zu Filine vor. Sie wartet im Garten
auf Sie.«
    »In der
Laube?«
    »Wo denn
sonst?«, antwortete sie bissig.
    Er zog den
leichten Studentenüberwurf aus und reichte ihn der Haushälterin. Wenig später geleitete
die Frau den Besucher zu einer zweiflügligen Tür, die nach draußen in den Garten
führte. Ein angenehmer Luftzug umspielte den Studenten, als er durch den schattigen
Hort in Richtung Laube ging. Er fand Filine auf einer Holzbank sitzend, völlig in
ein Gesellschaftsblatt vertieft. Überrascht blickte sie auf, als sie ihn die Laube
betreten hörte.
    »Julius!«,
entfuhr es ihr.
    »Finchen«,
entgegnete er mit warmer Stimme.
    Schnell
sah sie sich um und sowie sie die Haushälterin mit lauerndem Gesichtsausdruck hinter
den Fensterscheiben erspähte, nahm sie sich zusammen. Sie richtete sich auf, mit
gespielter Arroganz, und reichte ihm wie

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