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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armin Oehri
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lehnen. Die Pferde wieherten; ihre Nüstern blähten
sich.
    Beim genaueren
Betrachten erkannte Bentheim, dass die lange Latte in der Mitte eine Ritze besaß
und an den Enden von eisernen Verschlüssen zusammengehalten wurde.
    »Eine Klappleiter!«,
bemerkte er erfreut.
    Der Fotograf
nickte, während er die Holme auseinanderzog und die Sprossen einrasten ließ.
    »Nach dir«,
meinte er.
    Bentheim
stieg die ersten Sprossen empor, prüfte erst den Halt, bevor er weiterkletterte,
bis er über die Gartenmauer blicken konnte. Er sah die Laube, doch die Äste der
Linde, die in voller Blüte standen, behinderten einen Großteil der Sicht. Irgendwo
weiter hinten, hinter Büschen und Gewächsen versteckt, schillerten helle Farbtupfer
durch die Blätter. Dort, im Haus des Pastors, brannte schon Licht. Die obere Etage
war gänzlich in Dunkelheit gehüllt, was darauf schließen ließ, dass sich alle Bewohner
im Erdgeschoss befanden.
    »Was siehst
du?«, rief Albrecht hinauf.
    »Pst! Noch
nichts.«
    Unruhig
ging der Fotograf auf und ab. Der Kutscher beobachtete desinteressiert die Straße
und schnäuzte sich mit einem schmutzigen Nastuch. Minuten verstrichen, bis das wiederholte
Aufflackern und erneute Erlöschen von Lichtern in den oberen Zimmern auf eine rege
Betriebsamkeit im Heim des Pastors hindeutete.
    Es geht
los, dachte Julius erregt, sie suchen nach einer Hausapotheke. Er malte sich aus,
wie Adele Bredow an die Tür klopfte, dann – als geöffnet wurde – die zuvor in roten
Traubensaft getauchten Hände jammernd hochhielt und um Hilfe ansuchte. Meine Herrin,
würde sie aufgeregt sagen, sie braucht Ihren Beistand. So kommen Sie doch, helfen
Sie uns! Und Hedwig Lembke würde den Aufpasser darum bitten, sich der Dame anzunehmen.
    In der milden
Abendluft erklang das Knallen von ins Schloss fallenden Türen. Das Geknatter von
Kutschenrädern, die irgendwo übers Pflaster rollten, übertönte beinahe die Geräuschkulisse,
doch mit aller Anstrengung vernahm der Zeichner auch ein paar Dialogfetzen. Filines
Stimme, dann die der Lembke, dann wieder der Bass eines Mannes.
    Bald war
es still im Haus. Bentheim blickte zu Krosick hinab und zuckte mit der Achsel.
    »Was soll
ich tun?«, flüsterte er.
    »Warte ab«,
beschwichtigte Albrecht seinen Freund.
    Am Ende
der Straße tauchten zwei Passanten auf. Angeregt ins Gespräch vertieft, hielten
sie auf den Landauer zu. Bentheim drehte sich blitzartig um, sodass er das Kutschendach
vor Augen und die Mauer im Rücken hatte, und improvisierte: »Nein, mein Herr, ich
kann keinen Schaden am Dach erkennen.«
    »Sieh etwas
genauer nach«, nahm Albrecht den Faden auf. »Ich bin sicher, die Regenplane muss
ein Loch haben. Es zieht schrecklich herein. – Guten Abend, die Herren.«
    Die Spaziergänger
erwiderten den Gruß und bummelten an ihnen vorbei. Als sie in einem Hauseingang
verschwunden waren, drehte sich Bentheim um und spähte in den Garten. Allmählich
wurde er ungeduldig. Das Unrechtmäßige seines Vorhabens trieb ihm den Schweiß ins
Gesicht. Dennoch verharrte er in seiner Position, die Augen zu Schlitzen verengt,
und überblickte das Grundstück. Ein leises Pfeifen war plötzlich zu vernehmen. Es
wurde lauter, kam näher, das unbedarft wirkende Pfeifen eines Volkslieds.
    »Finchen,
hier!« Julius ließ nun alle Vorsicht fahren. Er schwang ein Bein über die Mauer,
sodass er wie auf einem Pferdesattel auf ihr saß. Sachte sein Körpergewicht ausbalancierend,
hielt er dem Mädchen seinen rechten Arm entgegen. Auf den einzeln angelegten Granitplatten
huschte eine Gestalt durch den Garten. Filine Sternberg holte zu einem Schwung aus
und schleuderte ein zu einem Packen verschnürtes Tischtuch über die Mauer.
    »Nimm meine
Hand!«
    Sie fasste
mit den Händen in die Fugen der Bruchsteine und kletterte hoch, bis Julius sie erreichen
und zu sich emporziehen konnte. Ihr Gesicht glühte vor Anstrengung, ein Kopftuch
um ihr Haupt verhüllte den Verlust ihrer blonden Locken. Die unter dem Stoff verborgenen
Schläfen pochten rasend.
    »Auf die
Leiter, Filine, schnell.«
    Sie schwang
die Beine über die Mauer, strauchelnd, tapsend nach Halt suchend, bis sie endlich
die oberste Sprosse fand. Krosick, der derweil ihre Utensilien aufgelesen hatte,
empfing sie unten und hielt ihr den Verschlag auf. Julius folgte, klappte die Leiter
zusammen und zurrte sie auf dem Dach des Landauers fest.
    »Hü!«, rief
der Kutscher und schnalzte mit der Zunge.
    Die Pferde
zogen an, während Bentheim und Krosick ins

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