Die dunkle Muse
Wageninnere sprangen und sich keuchend
auf die Sitze fallen ließen.
Zwanzigstes Kapitel
Sie befahlen dem Kutscher, sie zur
Alten Nazarethkirche im Ortsteil Wedding zu fahren, wo er sie aussteigen lassen
sollte. Der Landauer nahm Fahrt auf, der Mann auf dem Bock ließ die Peitsche knallen.
Alle zwei Minuten steckte Krosick sein Haupt aus dem Fenster, um nach etwaigen Verfolgern
Ausschau zu halten. Doch nichts Außergewöhnliches tat sich. An den Straßenrändern
sah man hin und wieder eine Berline, jenen voll durchgefederten Reisewagen, der
seinen Namen seiner Beliebtheit am Brandenburger Hof verdankte. Auch erblickte der
Fotograf junge Kavaliere, die mit ihrem Phaeton ausfuhren, sowie mehrere überdachte,
aber an den Seiten offene Pferdeomnibusse aus dem Fuhrunternehmen Kremser.
Die Verliebten
indes schwiegen.
Filine Sternberg
rümpfte die Nase, worauf Julius die beiden leeren Bierkrüge packte und sie ohne
weiter nachzudenken aus dem Fenster warf.
Sie lächelte
und Bentheim wurde es warm ums Herz. Da sie sich gegenübersaßen, musterten sie sich
unablässig. Der Tatortzeichner versuchte ihr Gesicht zu deuten, doch blieb ihre
Miene unergründlich. Allein der Umstand, dass sie geflüchtet war, bewies ihm, dass
sie die Übergriffe ihres Vaters nicht weiter zu erdulden gewillt war. Ob aber der
Pastor ihr die Aktzeichnungen vor Augen gehalten hatte, wusste Julius nicht. Wenn
dem so gewesen wäre, konnte sich Filine zusammenreimen, dass ihr Freund unschuldig
war: Wer, wenn nicht sie selbst, wusste besser, dass sie niemals Modell gestanden
hatte?
Was, wenn
sie die Zeichnungen doch gesehen hat, überlegte Julius. Meine Güte, sie ist nicht
dumm. Sie würde wissen, dass der Körper, den ich ihr verpasst habe, einem realen
Vorbild entspringt …
Der Landauer
rollte über das Pflaster. Bentheim atmete schwer. Ein Ausruf Krosicks holte ihn
und Filine wieder in die Wirklichkeit zurück: »Der Leopoldplatz!«
Vor dem
Ziegelbau mit dem für den Architekten Schinkel typischen Rundbogenstil verschnauften
die Pferde. Wortlos entstiegen die drei Freunde dem Kutschkasten. Krosick entlohnte
den Fahrer derart großzügig, dass sie zweifellos auf dessen Verschwiegenheit vertrauen
konnten. Sicherheitshalber warteten sie ab, bis das Gefährt ihren Blicken entschwunden
war, und winkten ein Stadtcoupé heran.
»Zur Marienburger
Straße«, beschied Krosick den Fahrer, als sie Platz genommen hatten. Hinter ihnen
wurde die kubische Fassade der Alten Nazarethkirche stetig kleiner, bis die Kutsche
schließlich in eine Seitengasse einbog und das Gotteshaus endgültig außer Sicht
war. Ihr Umweg hatte mehr als eine Stunde in Anspruch genommen und als sie vor der
Mietskaserne vorfuhren, in der Lene Kulm ihre letzten Atemzüge getan hatte, war
die anfänglich helle Sommernacht schon vollständig in Dunkelheit gehüllt.
»Hier, euer
Schlüssel«, sagte Albrecht voller Herzenswärme. »Hat mich ein Heidengeld gekostet,
den Vermieter zu bestechen.«
»Wird niemand
Fragen stellen?«, wollte sich Julius vergewissern.
Der Fotograf
schüttelte den Kopf. »Wer denn? Goltz wird verurteilt werden. Selbst falls der schlimmste
anzunehmende Fall eintrifft und er freigesprochen wird, hat er wohl keinerlei Interesse,
wieder hier einzuziehen. Die polizeiliche Versiegelung ist längst aufgehoben und
Kulms Verlobter noch in ärztlicher Behandlung. Der wird von der Staatsanwaltschaft
solange aufgepäppelt, bis er nicht mehr von Interesse ist. Außerdem habt ihr von
ihm nichts zu befürchten.«
Nachdenklich
sah Filine ihn an und umarmte ihn schließlich. Nachdem sie sich voneinander gelöst
hatten, beugte sie sich erneut vor, gab Krosick einen Kuss auf die Wange und flüsterte:
»Wir danken dir, Albrecht. Danke für alles.«
Im Eingangsbereich
war es dunkel und stickig. Die defekten Gaslampen waren nicht repariert worden und
noch immer boten die Dachluken lediglich schummriges Licht. Bentheim, der nebst
seinem eigenen auch Filines Gepäck geschultert hatte, hielt seine Freundin an der
Hand. Er tastete sich die Wand entlang durch den Flur ins Durchgangszimmer und zweigte
von dort in den Seitenflügel ab. Als sie den Hof betreten hatten, staunte die Pastorentochter:
Das Mietshaus, das äußerlich so elegant mit Stuckaturen verziert war, präsentierte
sich von innen verfallen und baufällig. Die Mauern wiesen Risse auf, der Verputz
bröckelte.
»Hier sollen
wir wohnen?«
»Es ist
nur vorübergehend«, versuchte Bentheim sie aufzumuntern. Doch seine
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