Die dunkle Muse
Antwort klang
ebenso erbärmlich wie ihre Frage.
Sie ließen
den Innenhof und die Remise hinter sich und langten beim Hinterhaus an. Bentheim
war es, als zöge sich der Weg ins Unendliche. Stufe um Stufe erklommen sie nun und
doch schien das Dachgeschoss in weite Ferne gerückt. Als sie endlich die Zugangstür
zu ihrer Etage geöffnet hatten und Filine auf der abgescheuerten Fußmatte stand,
wurde der längliche Raum indirekt durch das Mondlicht beschienen, das durch den
Lichtschacht fiel. Irgendjemand hatte den Boden geputzt. Selbst die von der Decke
baumelnden Tüten mit den getrockneten Kräutern waren entfernt worden. Ein Bild flackerte
vor Julius’ Augen auf. Blutspritzer und -lachen, verteilt über den ganzen Gang,
in der Mitte ein weiblicher Körper, die Augen starr, der Mund weit aufgerissen.
Nur mehr ein paar dunkle Flecken, die der Reinigung widerstanden hatten, zeugten
von dem brutalen Mord.
Filine erschauderte.
Sie blieb auf der Matte stehen, bis Julius die linke Wohnung aufgeschlossen und
eine Kerze angezündet hatte, und durchquerte erst dann den Flur. Goltz’ Zimmer bot
einen kargen Anblick. Die junge Frau stellte sich in die Nähe des Ofens, ließ den
Blick über die schäbige Matratze, den Stuhl, die verschlissenen Gardinen und die
Paneele an den Wänden schweifen. Es war, als getraue sie sich nicht, etwas anzufassen.
»Komm, Finchen,
setz dich«, meinte der Zeichner bekümmert und schob ihr den Stuhl hin.
Sie gehorchte,
den Blick starr auf die Schlafstätte gerichtet.
»Ist sie
noch …?«
Bentheim,
der ihre Ängste erahnte, antwortete schnell: »Keine Sorge, die Bezüge wurden gewechselt.
Die wurden inventarisiert und zu den Beweismitteln gelegt.« In kluger Voraussicht
verschwieg er die pikanten Spuren menschlicher Körpersäfte, die dort zu finden gewesen
waren. Er deutete auf den Holztisch, wo ein Stapel Leintücher und zwei Kissen lagen.
»Die sind
frisch, Finchen. In den letzten Stunden hat Albrecht für alles gesorgt.«
»Er ist
sehr hilfsbereit«, bestätigte sie, worauf sie wieder geraume Zeit schwieg, während
er sich damit beschäftigte, die Matratze zu beziehen. Er überlegte, ob er ein Feuer
entfachen sollte, doch im Gegensatz zur Mordnacht, als es morgens um halb fünf allmählich
kühl geworden war, war die Zimmertemperatur gerade noch angenehm genug.
»Julius,
diese Frau …«, begann
sie, doch ihre Rede stockte sogleich.
Bentheim,
der an das vom Pastor entwendete Bild dachte, nickte. »Ja, Filine, es gibt sie tatsächlich.«
»Wie bist
du dazu gekommen, sie zu …?« Sie
suchte nach dem richtigen Wort und als sie es gefunden hatte, ergänzte sie: »Sie
zu porträtieren?«
»Es war
eine Gelegenheitsarbeit«, erklärte er leise. »Ich dachte, du würdest es nie erfahren.
Ich habe nur das Geld gesehen, Filine. Schnell und einfach verdientes Geld.«
»Du wurdest
bezahlt für diese Schmierereien?«
»Natürlich.«
Verständnislos saß er auf der Matratze und sah sie an, bis er plötzlich verstand.
Er begriff, dass sie glauben musste, er hätte es gratis getan und mit gieriger Lust:
Er hätte seine Geliebte gemalt. Ein nicht mehr zu unterdrückendes Lachen kroch seine
Kehle hoch, er lachte vor Freude und Erlösung, er lachte und scherte sich nicht
um die Nachbarn in den unteren Stockwerken, die nichts von ihrer Anwesenheit mitbekommen
sollten. »Es war eine Nebenbeschäftigung, Finchen, ich tat es bloß, um Geld zu verdienen.
Für dich und mich, Finchen. Es hat nichts zu bedeuten.«
Sie griff
sich an den Hals, um den Knoten des Kopftuchs zu lösen. Sachte streifte sie den
Stoff herunter, wobei sie ihr Haupt entblößte. Ein paar Stoppeln säumten die Kopfhaut,
ansonsten war alles kahl. Kleine Schnittwunden zeugten von der Brutalität, mit welcher
Sternberg vorgegangen war, als er seine Tochter geschoren hatte. Filine zog den
Mantelüberwurf aus, sodass ihre Unterarme zu sehen waren, und präsentierte ungewollt
die Quetschungen, die von ihrem Vater stammten, der sie an den auf den Rücken gedrehten
Armen festgehalten hatte. Wortlos stand sie auf, lockerte die Knoten ihres Schnürleibchens
und setzte sich wieder. Während die Männermode nach dem für Frankreich so bedeutenden
Jahr 1789 sich sogar in Deutschland auf Jahrzehnte hinaus revolutionär gab, verfiel
die Damenmode schnell wieder in historisierende Formen. Die Damen hatten bieder
gekleidet zu sein, indem der Körper in viel Stoff gehüllt wurde und der Schnitt
der Kleider hochgeschlossen war. Dass Filine kein
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