Die dunkle Schwester
raunender Stimmen, die von einem namenlosen Grauen künden. In Rathinas Gemächern war ich nich t – ich wollte nicht wissen, welche Schrecken hinter ihrer Tür lauern.« Sie sah Tania für einen Augenblick schweigend an. »Der Hexenfluch hat auch dein Zimmer getroffen, Tania, aber ich denke, dort könnten wir eine Weile ausharren. Ja, lasst uns dorthin gehen! Ich zeige euch einen Weg, auf dem wir vor dem Gesindel von Lyonesse sicher sind.«
Lange irrten sie durch Gänge und über Treppen. Ab und zu hielt Eden unvermittelt inne, wenn in der Ferne raues Rufen und Lachen zu hören war. Die Stimmen weckten böse Erinnerungen in Tania, und sie dachte beklommen daran, wie die Grauen Ritter in ihr Schlafzimmer in London eingedrungen waren. Aber Eden sorgte dafür, dass sie nicht entdeckt wurden, und bald standen sie vor Tanias Zimmertür.
»Verschließe deine Augen, Schwester«, sagte Eden zu Tania, als sie die Tür öffnete. »Denn was du an deinen Wänden siehst, wird dir nicht gefallen.«
Mit klopfendem Herzen trat Tania hinter ihrer Schwester ein. Graues Licht sickerte durch die eingeschlagenen Fenster, die Bettdecken waren aufgeschlitzt und zerfetzt, die Möbel von Axthieben zertrümmert. Alle ihre Besitztümer waren zerstört und beschmutzt, und selbst der Waschtisch lag umgestürzt am Boden, mitten unter den zerbrochenen Wasserkrügen.
Trotz Edens Warnung warf Tania einen Blick auf die Wandteppiche, die einst so schön gewesen waren: ferne Landschaften und Meeresstrände, hohe Berge und weite Ebenen, schimmernde Eisschollen, die sich im blauen Nordmeer spiegelten. Aber es war nicht nur die Schönheit dieser Landschaften, die Tania so geliebt hatte, sondern das Fernweh, das aus ihnen sprach, die Sehnsucht nach Weite, die sie tief im Herzen berührte. Und wie lebendig die gewebten Szenen gewesen waren! Jeder Faden, jede Faser vibrierend vor Energie, alles in unablässiger Bewegung: weiße Wattewölkchen, die sanft über den Himmel schwebten, frühlingsgrüne Blätter, die in den Bäumen raschelten, zarte rotgoldene Vögel, die sich zu den fernen Bergen aufschwangen.
Aber jetzt war alles düster und abstoßend. Ein Vulkan spie blutrote Flammen in einen rauchgrauen Himmel. Finstere Geschöpfe huschten durch eine nächtliche Kraterlandschaft, die in dicken gelben Rauch gehüllt war. Brennende Wälder, federlose Vögel, die am schwefligen Himmel dahinsausten und nackte, zappelnde Geschöpfe in ihren Schnäbeln hielten. Monster, die in schlammigen Tümpeln voll verwesender Kadaver schwammen.
Tania wandte entsetzt den Blick a b – hätte sie doch nur auf ihre Schwester gehört!
Edric trug die bewusstlose Sancha zum Bett und legte sie behutsam auf die zerfetzten Decken. Im selben Moment begannen Sanchas Lider zu flattern und ihre Lippen bewegten sich.
Eden setzte sich neben sie und legte ihr eine Hand auf die Stirn. »Sie erwacht«, sagte sie. »Bald wird sie wieder gehen können, doch wird es vielleicht noch Stunden dauern, bis ihr Geist wieder klar ist. Die Schrecken, die im Blick eines Basilisken lauern, sind nicht so leicht zu überwinde n – wäre ich auch nur eine Sekunde später gekommen, so hätten wir unsere Schwester vielleicht für immer verloren.«
»Wie hast du uns denn gefunden?«, fragte Tania.
»Der Zauber, den der Hexenkönig über mich verhängte, verdunkelt meinen Geist wie schwere Gewitterwolken«, erklärte Eden. »Er macht mich jedoch nicht vollständig blind. Vor ein paar Stunden spürte ich, wie die Luft im Norden zu tanzen began n – und da wusste ich, dass ihr zurück seid. Selbst die mächtigsten Hexenflüche können mich nicht von meinen Schwestern fernhalten. Ich habe mich in den verlassenen Gängen im westlichen Teil des Palastes versteckt, als ich eure Gegenwart spürte. Ich bin so schnell wie möglich zu euch geeilt, doch ich musste auf der Hut sein, um nicht den Grauen Rittern in die Hände zu fallen.«
»Und dennoch bleibt dir der Aufenthaltsort unseres Vaters verborgen«, murmelte Zara. »Das ist ein schlechtes Omen. Wie sollen wir ihn nur finden?«
»Ich glaube, Sancha hatte einen Plan«, sagte Edric. »Aber der Basilisk kam über sie, ehe sie uns einweihen konnte.«
»Dann müssen wir warten, bis sie erwacht«, sagte Eden.
»Soll das heißen, dass alles umsonst war?«, fragte Tania. »Das ist es doch, wenn wir jetzt einfach in den Wald zurücklaufen.«
»Nein, Schwester, so fruchtlos war unsere Suche nicht«, antwortete Zara mit einem Blick zu Eden.
»Ach so, kla r –
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