Die dunkle Schwester
Gefahr.«
Eden huschte über einen Dachbalken und Tania folgte ihr. Sie quetschten sich durch eine Ritze, die Tania im ersten Moment viel zu klein erschien, aber ihr Rattenkörper war unglaublich biegsam. Kopfüber kletterten sie an der Innenseite der Wand hinunter und nutzten jeden noch so winzigen Vorsprung als Haltegriff für ihre Krallen. Tania hörte deutlich die Grauen Ritter hinter der Wand lärmen.
Auch andere Geräusche drangen an ihr feines Ohr: das Huschen der Spinnen und Kakerlaken, die in den Hohlräumen der Wände hausten, und das Ächzen und Knarzen der Holzbalken. Sie hörte jeden Laut, den Eden verursachte. Aber irgendwie war die Geräuschkulisse anders als sons t – es gab keine tiefen Laute, und die Luft war von hohem Quieken erfüllt.
Schließlich waren sie auf der Höhe der Großen Halle und quetschten sich durch einen engen Gang, der zwischen dem kalten Stein und dem rauen Gebälk hindurchführte. Es war stockdunkel hier drinnen, und trotzdem nahm Tania ihre Umgebung deutlich wahr, denn ihre Schnurrhaare, Ohren, Nase und Pfoten lieferten ihr mehr Informationen, als ihre menschlichen Sinne je aufzunehmen vermocht hätte. Ein Stück weit vor ihnen klaffte ein gezacktes Loch im Gebälk, dahinter flackerte bläuliches Licht.
Eden drehte ihren langen Kopf, sodass sich der blaue Lichtschein in ihren schwarzen Knopfaugen spiegelte. »Halte dich dicht bei mir«, sagte sie. »Wir dringen jetzt in das Herz der Finsternis vor.«
Mit einem energischen Schwanzschlag verschwand sie in dem Loch. Tania richtete sich kurz auf den Hinterbeinen auf und rieb ängstlich ihre Vorderpfoten aneinander. Ihr Herz klopfte aufgeregt in ihrer winzigen Rattenbrust. Plötzlich stiegen Szenen aus ihrem alten Leben in London vor ihrem inneren Auge auf, Gedanken an ihre geliebten Eltern in der Welt der Sterblichen. Wenn nun etwas schiefging? Wenn sie entdeckt und getötet wurden? Dann würden ihre Eltern nie erfahren, was aus ihr geworden war. Sie würden in ihr verwüstetes Haus zurückkehren und ihre einzige Tochter wäre spurlos verschwunden. Das wäre ein schrecklicher Schlag für sie.
Plötzlich bereute Tania, dass sie ihnen nicht von ihrer Bestimmung zur Elfenprinzessin erzählt hatte. Dann wären wenigstens die letzten paar Wochen, die sie mit ihnen verbracht hatte, nicht von Lügen und Geheimnistuerei überschattet gewesen. Und ihre Eltern hätten sich damit trösten können, dass Tania noch lebte und in einer anderen Welt glücklich war.
Falls sie ihr diese verrückte Geschichte überhaupt geglaubt hätte n …
Tania verdrängte schnell die düsteren Gedanken und huschte hinter Eden durch das Loch. Vor ihr dehnte sich ein weitläufiger Dielenboden aus. Vor lauter Schreck setzte sie sich erst einmal auf die Hinterbeine. Tische und Stühle ragten baumhoch über ihr auf, die Menschen in der Halle waren riesig, ihre Stimmen wie Donnergrollen, und jede ihrer Bewegungen löste wahre Wirbelstürme aus. Der ganze Boden erbebte, wenn sie auf ihren Säulenbeinen vorbeitrampelten, in ihren gewaltigen Stiefeln, die wie wandelnde Hügel waren.
Plötzlich merkte Tania, dass ihre Rattenaugen die Farbe Rot nicht wahrnahmen. Die Fackeln an den Wänden glühten weiß und nach außen hin färbten sich die Flammen lila. Alle Gegenstände im Raum nahm sie in Schattierungen von Blau, Grau, Ocker und Grün wahr.
Und diese Gerüche! Tausend verschiedene Duftnoten stiegen ihr in die Nase: Holz. Stuck. Stein. Gebratenes Fleisch. Knochen. Schweiß. Blut. Verfaulendes Obst und Gemüse. Ein grauenhafter, undefinierbarer Gestank, der schlimmer als der Tod war. Und dann plötzlich ein Geruch, der Gefahr signalisiert e – Hundegestank, wie Tania instinktiv erkannte.
Ängstlich spähte sie in der Halle umher. Ja, es waren Hunde. Zum Glück nicht direkt in ihrer Nähe, sondern am anderen Ende des riesigen Holzbodens: große schwarze Hunde mit mageren, muskulösen Flanken, kurzem Fell, stumpfen Schnauzen und bösen kleinen Augen. Ein paar von diesen Kreaturen lagen ruhig unter den langen Bänken und warteten darauf, dass ihnen etwas zu fressen hingeworfen wurde. Andere streunten im Saal herum, schnüffelten im Dreck, balgten sich um weggeworfenes Essen oder nagten an einem Knochen.
»Morrigan-Hunde!«, zischte Eden. »Sei auf der Hut vor diesen Bestien, Tania.«
»Können sie uns riechen?«
»Der Zauber müsste deinen Geruch verdecken«, antwortete Eden. »Aber ich weiß, warum diese Höllenhunde hier sind. Sie wurden eigens dafür
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