Die dunkle Schwester
hereinsickerte. Staub hing in der Luft und drang ihr in die Nase. Ihre Füße balancierten auf den breiten Querträgern der verputzten Balkendecke über der Großen Banketthalle. Früher, in glücklicheren Zeiten, hatte Tania dort unten mit König Oberon zu Lauten- und Trommelklängen getanzt.
Jetzt blickte sie ihre Schwester an, die mit geschlossenen Augen dicht neben ihr kauerte. Edens Lippen bewegten sich in einem stummen Beschwörungsgesang.
Von unten drangen beunruhigende Geräusche an Tanias Oh r – raues Rufen und Lachen, das hin und wieder in schauerliches Gebrüll überging. Es klang, als sei die ganze Horde von Lyonesse in der Großen Halle versammelt, um dort ein Saufgelage zu veranstalten und ihren Sieg zu feiern.
Plötzlich schlug Eden die Augen auf. »Es ist beinahe vollbracht.«
»Willst du mir nicht erklären, was genau passieren wird?«, sagte Tania.
»Nun, wir werden in kleine Tiere verwandelt«, erklärte Eden, die Augen auf Tania geheftet. »Es ist ei n … seltsames Gefühl, du wirst sehe n …«
Tanias Augen weiteten sich. »Tiere?«, wiederholte sie. »Was für Tiere?«
»Ratten.«
»Oh.«
Eden lächelte. »Ich kann es auch allein machen, wenn dir davor graut«, sagte sie.
»Nein, nein. Ich hab gesagt, ich helfe dir, und dabei bleibt es«, wehrte Tania ab. »Kann ich noch mit dir reden, wenn e s … so weit ist?«
»Oh ja, gewiss.«
»Okay.« Tania schluckte. »Ich bin bereit.«
Eden senkte den Kopf, sodass die weiße Haarmähne über ihr Gesicht fiel. Dann stimmte sie einen hohen Singsang an, von dem Tania kein Wort verstand. Schließlich sagte Eden dreimal hintereinander: »Vasistabel! Vasistabel! Vasistabel!«
Tania schnappte nach Luft. Was war das denn? Ein tiefes Loch klaffte plötzlich in ihrem Körper, sie fühlte sich wie auf der Achterbahn, wenn der höchste Punkt erreicht ist und der Waggon steil bergab stürzt. Ein heftiger Wind fegte durch ihren Kopf und sie krümmte sich weit vornüber. Sie fiel und fie l – oder glaubte zu falle n – und währenddessen flogen ihr die Kleider vom Leib, und ihre Haut schrumpfte in rasendem Tempo ein, als sei sie ihr plötzlich zu groß geworden. Neue Haare schossen aus ihrer Kopfhaut hervor, ihre Augen traten aus den Höhlen, und die ganze untere Gesichtshälfte wurde mit aller Kraft gegen ihre Lippen gepresst. Ihr Mund dehnte sich und die Oberlippe riss in der Mitte auseinander. Gleichzeitig wurden ihre Zähne lang und scharf, ihre Finger bogen sich zu Krallen. Dann knickten ihre Beine ein, ihre Knie pressten sich an die Flanken, ihre Füße wurden schmal und knochig. Ihr Herz raste.
Im nächsten Moment hörte alles auf. Tania hockte in der Dunkelheit, mit einer schweren Last über sich. Vorsichtig hob sie den Kopf und schnüffelte. Ihre Schnurrhaare zuckten. Es roch verdächtig nach Mensch ringsum und sehr stark und vertraut: ihr eigener Geruch.
Plötzlich begriff sie, was auf ihr lag: ihre Kleider! Mühsam wühlte sie sich aus den Falten ihrer Jeans hervor, huschte durch ein paar weitere Stofftunnel und suchte einen Weg nach draußen. Es war nicht nur ihr eigener Geruch, der ihr in die Nase stieg, während sie durch das Kleiderlabyrinth lief, sondern es bedrängten sie weitere Gerüche, die sie alle sofort einordnen konnte: Weichspüler, Autoabgase, ein Hauch von Edric, die dumpfe Luft der Kerkergewölb e …
Endlich wurde es heller. Tania huschte ins Tageslicht hinaus, trippelte über eine raue Oberfläche und sprang auf einen Querbalken.
Auf dem nächsten Querbalken stand eine braune Ratte, mit zitternden Schnurrhaaren und glänzenden schwarzen Knopfaugen.
»Eden?«
»Ja, ich bin’s«, sagte die Ratte. »Und wie fühlst du dich jetzt, Schwester?«
Tania blinzelte. »Sehr komisch. Es ist so hell hier drin.«
»Du hast jetzt Rattenaugen, Tania.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass ich meine Kleider abwerfen würde.«
Eden oder vielmehr die braune Ratte kicherte. »Dachtest du, wir würden in winzigen Menschenkleidern durch den Palast wandern?«, sagte sie. »Das wäre gewiss sehr unauffällig.«
Tania blickte an sich hinunter. Ihr hellbraunes Fell war fest und glatt, aus ihren kleinen Pfoten ragten lange Krallen. Sie bewegte einige Muskeln, die sie vorher nicht besessen hatte, und peitschte mit ihrem Schwanz hin und her.
»Nun, hast du dich von der Verwandlung erholt?«, fragte Eden.
Tania nickte. »Glaub schon.«
»Dann folge mir, kleine Schwester, und sieh dich gut vo r – wir begeben uns jetzt in große
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