Die dunkle Seite des Weiß
Papiere, die auf dem Parkettboden verstreut lagen. »Steht alles da drin. Sieh es dir an, ja? Bitte. Ganz in Ruhe. Und dann melde dich.«
»Wohl kaum«, antwortete ich eisig. Ich hatte allen Grund dazu, unfreundlich zu sein. Die Akademie hatte mich ausgebootet. Nicht einmal auf Mirella hatte ich mich verlassen können, als es ernst geworden war. Und das ließ sich nicht so einfach vergessen. Auch, wenn mein Herz bei ihrem Anblick einen Sprung machte – einen größeren, als mir lieb war. Unsere Beziehung war immer besonders gewesen. Wir waren wie zwei Pole, die sich gegenseitig abstießen und im nächsten Moment unwiderstehlich anzogen. Das hatte es so schwierig gemacht. Und so unausweichlich.
Mirella erhob sich und strich den kurzen Mantel im Uniformstil glatt, der typisch für die Mitarbeiter der Akademie war. Ihr Blick fiel auf meine Klarinette, die auf einem kleinen Tisch am Fenster lag. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Spielst du noch?«
Ich nickte steif. »Manchmal.«
Mirella ging zu dem Instrument und strich vorsichtig mit den Fingerspitzen darüber. Dann runzelte sie die Stirn und blickte mich an. »Ich wünschte, du wärest nicht so verdammt stur. Fehler passieren jedem von uns. Und niemand hat jemals deine großartigen Fähigkeiten angezweifelt, niemand …«
»Ich habe keinen Fehler gemacht«, antwortete ich kühl. »An der Sache war was faul. Von Beginn an. Und versuch erst gar nicht, mich zu manipulieren, Mirella. Du weißt genau, bei mir funktioniert das nicht.«
Mirella presste die Lippen zusammen. Dann nickte sie. »Wenn du das so siehst, dann kann ich dir nicht helfen. Aber du solltest wissen, dass die Akademie dich schätzt. Und dass du fehlst. Gerade jetzt.«
»Das sind ja ganz neue Töne. Und wem genau fehle ich?«
Mirella blickte mich einen Moment schweigend an. Dann deutete sie nochmals auf die Papiere. »Ich lasse das hier. Sieh es dir an!«
Damit drehte sie sich um und verschwand ohne ein weiteres Wort aus meiner Wohnung. Zurück blieb der leise Hauch ihres Parfums, verschattet wie eine Ahnung.
*
Ich ignorierte die herumfliegenden Blätter in meinem Wohnzimmer ganze zwei Tage lang. Schritt über die bedruckten Seiten, als wären sie eine neue Art von Teppich, umrundete sie wie Pfützen, die sich zwischen Sofa und Bücherregalen ausgebreitet hatten, trat sie mit Füßen wie welkes Laub im Rinnstein.
Und von Minute zu Minute gingen sie mir mehr auf die Nerven. Es war, als bohrten sich die ungelesenen Fakten in meine Gedanken, verfolgten mich in meine Träume, wie Mirella es seit Jahren tat, und ließen mich mit nichts weiter als einem faden Geschmack im Mund zurück.
Schließlich riss ich die Zettel vom Boden hoch und stopfte sie in den Altpapierkorb hinter der Küchentür. Nur um sie keine drei Minuten später hektisch wieder hervorzukramen und auf dem Küchentisch auszubreiten.
Ich strich die zerknitterten Bögen glatt und überflog die ersten Zeilen. Mein Herz begann rasend zu schlagen und die Buchstaben tanzten vor meinen Augen wie irrgewordene Derwische, während ich mich immer schneller durch die Seiten arbeitete. Unbekannte junge Frau , etwa 17 Jahre – gefunden in den Ruinen der Beelitzer Heilstätten nahe Berlin – Todesursache ungeklärt – Freitod wird ausgeschlossen.
Und dann der Zusatz, bei dem sich mein Magen zusammenkrampfte: Erkrankt an Tuberkulose.
TBC. Deshalb also hatte Simon Mirella zu mir geschickt. Deshalb war ich überhaupt wieder zur Sprache gekommen in dieser Akademie, deren Tore sich vor zwei Jahren scheinbar für immer hinter mir geschlossen hatten.
Ich legte die Papiere zur Seite. Das Holz der Stuhllehne drückte schmerzlich in meinen Rücken, doch ich beachtete es kaum. An manchen Tagen störten mich die hochsensiblen Wahrnehmungen jeder Kleinigkeit. An anderen Tagen gingen sie unter. An Tagen wie heute.
Erkrankt an Tuberkulose … Ohne dass ich es verhindern konnte, öffneten sich Türen in die Vergangenheit. Bilder. Die Leichen dreier junger Frauen, gefunden in Berlin. Alle erkrankt an Tuberkulose. Und ich, den man gerufen hatte, weil die Polizei sich von einem Hochsensiblen Hilfe erhoffte. Weil sie gedacht hatten, dass einer aus der Akademie vielleicht etwas finden würde, was alle anderen übersehen hatten.
Was für ein Irrtum. Ich fand nicht, was ich finden sollte. Dafür etwas Anderes, weitaus Brisanteres. Es hatte mich meinen Job gekostet. Und Mirellas Liebe. Ich weiß, dass es regnete an diesem Tag. Und ich weiß, dass ich
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