Die dunkle Seite
gestreckt.
Nichts.
Zurück!
Niemand.
Vor ihm der rote Stoff.
Solwegyn hielt den Atem an und kämpfte die Panik nieder. So stand er eine Weile, bis alles um ihn herum so still war, daß man eine Maus hätte laufen hören.
Der Pfeifer war jenseits des Vorhangs. Es gab keinen anderen Platz, wo er sich noch hätte aufhalten können.
Er wartete auf ihn.
Aber auch er würde sich fragen, was in der Stille draußen vor sich ging. Wenn er gedacht hatte, Solwegyn zermürben zu können, hatte er sich getäuscht. Solwegyn würde ihn zermürben. Er würde so lange hier stehenbleiben, bis der andere herauskam, und dann ...
Wieder begann er zu zittern. Seine Lungen verkrampften sich. Er rang nach Luft und mußte husten.
Jetzt blieb ihm keine Wahl mehr. Mit einem Aufschrei sprang er nach vorne und riß den Vorhang beiseite.
Vor ihm lag das Reich der Göttin.
Sie thronte erhaben und gewaltig über dem Wasserbecken. Ihre Augen sahen über ihn hinweg in unbestimmte Fernen. Ihr Mund schien eine winzige Spur zu lächeln, und zum ersten Mal kam es Solwegyn vor, als drücke ihre Miene die ganze göttliche Grausamkeit, Verachtung und Wollust aus, die er immer in ihr hatte sehen wollen.
Alles geschah gleichzeitig.
Er glaubte einen Schatten aus seinem Blickfeld wirbeln zu sehen, die Andeutung eines Körpers, und begriff im selben Moment, daß die gepfiffene Melodie ein Legionärslied war, das zu seltenen Anlässen gesungen wurde, um die Gefallenen zu ehren. Der Schwung seines Anlaufs trug ihn über die Schwelle auf die Göttin zu. Er versuchte seinen Sprung zu bremsen, hinter sich zu sehen, dann erhielt er einen fürchterlichen Schlag zwischen die Schulterblätter und stürzte mit dem Kopf voran in das beleuchtete Becken.
Kaltes Wasser schlug ihm ins Gesicht. Er tastete nach dem Beckenrand und verlor die Waffe. Prustend riß er den Kopf nach oben, kam mit einem Satz auf die Beine und stolperte nach vorne, um einer weiteren Attacke zu entgehen. Der gegenüberliegende Rand schien sich zu einer Mauer auszuwachsen. Solwegyn sprang keuchend darüber hinweg und drehte sich um seine Achse.
Der Schatten kam um das Becken herumgeschossen und packte ihn. Solwegyns Kopf schlug zwischen die Brüste der Göttin. Vor seinen Augen tanzten bunte Lichter, als seien die Lusthöhlen voller Paare. Seine Beine knickten unter ihm ein. Er fühlte sich hochgerissen und erneut gegen den riesigen Körper geschmettert.
Rechts und links seiner Stirn breiteten sich Schmerzen aus, als habe man Brandeisen darauf gepreßt. Seine Gliedmaßen verwandelten sich in Gummi. Mit einem Ächzen sank er in die Knie, zwei blutige Striemen an den Innenseiten der Brüste hinterlassend. Blut lief ihm in die Augen. Blut tropfte vor ihm auf den Boden. Er suchte nach Halt und kippte langsam auf die Seite.
Verschwommen gewahrte er ein Gesicht, das sich über ihn beugte.
Flinke Hände bogen seine Arme nach hinten und schnürten seine Handgelenke zusammen. Wieder wurde er hochgezerrt und gegen eines der abgewinkelten Beine der Göttin gedrückt, während Riemen in sein Fleisch schnitten. Sein Kopf sackte nach vorn, und er fühlte sein Bewußtsein schwinden.
Eine Ohrfeige riß ihn zurück. Eine zweite von der anderen Seite.
Eine dritte.
Er stöhnte und blinzelte.
»Ymir. Nicht einschlafen.«
»Nein«, wimmerte er, »Nein, nein, nein ...«
»Ah. Wieder aufgewacht.«
Solwegyns Blick klärte sich.
Sein Gegenüber trat einen Schritt zurück, legte den Kopf schief und betrachtete ihn mit sichtlicher Befriedigung.
»Ich dachte ...«, keuchte Solwegyn. Blut lief über seine Unterlippe.
Das Kinn drohte ihm wieder auf die Brust zu sinken. Er nahm alle Kraft zusammen und hob den Blick zu dem anderen.
»Was dachtest du? Ich sei tot? Das dachten einige.«
Der Eindringling setzte sich auf den Beckenrand und stützte das Kinn in die Hände.
»Armer kleiner Ymir.« Er begann zu singen: »Klein, klein, klein sind alle meine Entchen. Klein, klein, klein ist Ymirs kleines Herz. Auf, auf, auf hält Ymir seine Händchen. Klein ist die Welt...«
»Bitte ...«
»Und groß der Schmerz.«
»Was willst du?« schrie Solwegyn. »Ich hab dir doch nichts getan.«
»Nicht?«
»Hilfe. Hilfe! Oh mein Gott!«
Solwegyn versuchte seine Hände zu bewegen, dann seinen Ober körper vorzubeugen. Zwecklos. Er war fest mit der Göttin verbunden.
Der andere lachte.
»Wen rufst du? Es ist niemand im Haus.«
»Warum hast du Üsker getötet?« stieß Solwegyn hervor.
Ȇsker, der kleine
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