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Die dunkle Seite

Die dunkle Seite

Titel: Die dunkle Seite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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jemandem, der gerade einen anderen vergewaltigt oder erstochen oder erschossen hat. Daß jeder noch so kümmerliche miese Abschaum unter dem Mikroskop für kurze Zeit zum Wunder wird. Oder das nagende Mitleid mit den Opfern, deren Haare man von einem Teppich aufsammelt oder von einem Bürgersteig, obwohl sie auf eine Kopfhaut über ein lachendes Gesicht gehören.
    Blut läßt mich kalt. Seltsamerweise. Vielleicht, weil ein menschlicher Körper nach außen immer noch intakt scheint ohne Blut. Was uns ängstigt, ist, zerrissen zu werden, zerfetzt und verstümmelt.
    Etwas von uns zu verlieren und diesen Makel durch die Welt tragen zu müssen. Der sichtbare Verlust. Während meiner Zeit bei der Spurensicherung habe ich mich oft gefragt, was ich täte, wenn ich ein Bein oder einen Arm verlieren würde. Nicht mehr vollständig zu sein im Sinne einer auf Perfektion bedachten Öffentlichkeit ist weit schlimmer als Blutleere.
    Polizisten werden sonderbar, wenn sie längere Zeit solchen Dingen ausgesetzt sind. Sie suchen Partner, um ihre Erfahrungen zu teilen. Mit Gewaltverbrechen befaßt zu sein, zwingt einen, sich mit einer Hornhaut zu umgeben. Man ertappt sich dabei, nach Hause zu kommen und den Kratzer am Bein des eigenen Kindes, das gotterbärmlich weint, zur Nichtigkeit zu degradieren. Die Sichtweise für das Schreckliche verlagert sich. Entweder man geht zugrunde, oder man verliert den Bezug zu den alltäglichen Wehwehchen, die aber nun mal neunundneunzigkommaneun Prozent der Menschheit heillos entsetzen. Man steht daneben und fühlt sich eines Tages nicht mehr zugehörig, weder zu den Alltagsmenschen noch zu den Gewaltverbrechern.
    Man wird also einsam.
    Mir selber ist wenig begegnet, was mich in diese Isolation hätte treiben können. Karl hatte mehr gesehen. Er schwieg darüber. Er wurde respektiert, weil er schweigen konnte. Er strahlte etwas aus, das ich gern gehabt hätte. Eine eherne Ruhe. Irgendwie fühlte ich mich geehrt, als er begann, mir von den Schatten zu erzählen, die ihn heimsuchten. Er merkte, daß ich ihn verstand. Zu der Zeit wuß te ich gar nichts. Ich wußte nicht, daß er Rohypnol nahm, dieses Schlafmittel, das unter Umständen gegenteilige Wirkung hat und enorm aufputscht. Er ist mit vielem nicht zurechtgekommen, aber es funktionierte, solange er die Kontrolle hatte oder zu haben glaubte.
    Doch, er war sensibel und zärtlich. Nicht unbedingt kontaktfreudig, aber ich dachte, das könnte ich ja besorgen, den Freundeskreis.
    Ich hatte keinerlei Zweifel, daß er sich Freunde wünschte. Er selber war eben schüchtern. Das ist eine erregende Kombination, Kraft, Souveränität und Schüchternheit. Man glaubt tatsächlich, einen zweiten Clint Eastwood vor sich zu haben, ohne zu ahnen, daß die Kraft Stoik, die Souveränität Desinteresse und die Schüchternheit mangelndes Selbstbewußtsein sind.
    Man ahnt so vieles nicht.
    Die Hochzeit war ein Jahr, nachdem wir das erste Mal zusammen über einem Mikroskop gehangen hatten. Unsere ersten Monate waren traumhaft, alles stimmte. Wann immer wir konnten, fuhren wir weg. Karl liebte die Einsamkeit, also gewöhnte ich mir an, sie auch zu lieben. Ich wollte nichts anderes, als an seiner Seite zu sein, also war die Einsamkeit in Ordnung. Wir verbrachten unseren ersten Urlaub in den Highlands, obwohl ich lieber nach Italien gefahren wäre, aber er versprach, wir würden das im kommenden Jahr nachholen. Er hatte ein Cabrio gekauft. Wir hatten Glück mit dem Wetter, fuhren offen und lernten Millionen Schafe kennen und kein Schwein. Ich glaube, es war das einzige Mal, daß Ausgewogenheit und Harmonie zwischen uns herrschten.
    Eine Beziehung ist kein Schmelzofen. Ich bin der unumstößlichen Überzeugung, daß man nicht alles teilen kann. Es gibt Orte und Situationen, da fühle ich mich wie angekoppelt, wie eine lang gesuchte Steckverbindung, ein fehlendes Puzzleteil. Man muß sehr ehrlich mit sich selber sein, um das auszukosten. Wenn dir jemand beibringen will, dieses Empfinden sei falsch, will er sich nur selbst zur Hauptsache machen. Zwei Hauptsachen, das ist legitim. Das geht. Jeder soll seine eigene Hauptsache bleiben, um so eher kann eine Beziehung mit allem gegenseitigen Respekt funktionieren.
    Aber eben darum denke ich auch, daß gemeinsames Erleben immer nur die Schnittmenge des Unausgesprochenen sein kann. Darüber hinaus muß jeder sehen, daß er mit sich selber glücklich wird, sonst kann er mit keinem glücklich werden.
    Karl verstand diesen Gedanken nicht

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