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Die dunkle Seite

Die dunkle Seite

Titel: Die dunkle Seite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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Selbstporträts gemalt, um besser mit sich leben zu können«, sagte Bathge. Es klang nicht dozierend oder selbstgefällig.
    Es war schlicht und einfach der Satz, der gerade am besten paßte.
    Immer gab es zu Beginn diese Sätze, die so wunderbar paßten.
    Und irgendwann kommt ein Satz, der nicht ganz so gut paßt, dachte Vera. Und dann passen sie immer weniger, und schließlich kommen überhaupt keine Sätze mehr, sondern nur noch die harten, hilflosen Argumente.
    Aber vielleicht ging es auch anders.
    Bathge sah von dem Porträt zu ihr und wieder zurück. Sie trank einen Schluck.
    »Wie viele dieser Bilder haben Sie gemalt?«
    »Ich weiß nicht. Dutzende.«
    »Sie sind schön.« Er lachte. »Jedenfalls die beiden, die ich kenne.
    Ich vermute, die anderen sind ähnlich.«
    »Möchten Sie sie sehen?«
    Ihre innere Abwehr steckte auch diese Niederlage schweigend weg.
    »Sehr gerne«, sagte er.
    Sie holte die Sammlung aus dem Schubladenschrank und breitete sie vor ihm aus. Vera in dutzendfacher Ausfertigung. Zumeist seltsam unbeteiligt, auf den schlechteren Versuchen grimassierend, auf den besseren mit sparsamen, kräftigen Strichen ins Leben gerufen.
    Ihre letzten Arbeiten zeigten einen immer reduzierteren Strich, aber zugleich den stärksten Ausdruck.
    Bathge stand lange schweigend davor.
    Sie fragte sich neugierig, welche der Arbeiten er besonders hervorheben würde. Welche ihm am besten gefiele.
    So wie du da bist, auf diesem Bild, würde er sagen, finde ich dich am besten.
    Sei so.

    Sei, wie ich dich haben will.
    Er würde urteilen, und verurteilt würde sie die Bilder wegschlie‐
    ßen und sich ärgern, ihm die Sammlung überhaupt gezeigt zu haben.
    »Wozu das Ganze?« fragte er statt dessen. Kein Urteil, kein Lob, keine Kritik.
    Vera zuckte die Achseln.
    »Wie Van Gogh schon sagte: vielleicht, um besser mit mir leben zu können.«
    »Haben Sie solche Angst vor dem Verschwinden?«
    Sie hielt den Blick weiter zu Boden gerichtet.
    »Ich glaube«, sagte Bathge, »van Gogh fürchtete, in zwei Menschen zu zerfallen. Den gesunden und den kranken, den lebenslustigen und den wahnsinnigen, der sich selbst zerstört. Ihre Porträts sagen mir etwas anderes.«
    »Was?«
    »Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, ohne Sie vielleicht zu kränken.«
    »Nur zu«, sagte Vera. »Ich bin hart im Nehmen.«
    »Das glaube ich Ihnen aufs Wort.« Er zögerte. »Kann auch sein, daß ich danebenliege. Aber es kommt mir so vor, als hätte die Frau, die diese Bilder gemalt hat, sich ständig beweisen müssen, daß sie ... existiert. Daß sie da ist und eine Bedeutung hat. Daß sie nicht nur aus den Wünschen und Vorstellungen anderer besteht und darum vergehen muß, wenn diese Vorstellungen enden. – Ja, es scheint... als hätte sie tatsächlich gegen ihr eigenes Verschwinden angemalt.«
    Vera hörte ihm unbeweglich zu.
    »Kann es nicht auch sein, daß sie versucht hat, zu sich selbst zurückzufinden?« sagte sie.
    Er nickte.
    »Ja, aber dann ... was war noch von ihr übrig, als sie damit angefangen hat?«
    Vera wandte den Kopf ab. Die untergehende Sonne zeichnete Schrägen aus Licht in den Raum. Etwas in ihr schmerzte kurz und heftig und verging.
    »Tut mir leid«, sagte Bathge. »Ich hatte nicht das Recht...«
    »Doch«, sagte Vera.
    Sie drehte sich zu ihm um, umfaßte ihn mit der freien Hand und zog ihn zu sich heran.
    Sie küßte ihn.
    Sachte erkundete sie die Regionen seiner Lippen, die sich bereitwillig öffneten, sandte ihre Zungenspitze aus, um seine hervorzulocken. Es war einer jener Küsse, während derer sich das Universum um die Erde dreht, und als sie atemlos den Kopf zurückwarf und die Reflexe des späten Sonnenlichts in seinen Augen sah, fand sie bestätigt, daß Vera Gemini existierte.
    Sie liebten sich auf einem Bett aus Bleistiftgesichtern.
    Die Zeichnungen raschelten unter ihren Körpern, knitterten, rissen, wurden durcheinandergewirbelt vom plötzlich aufziehenden Wind, der durch das offene Fenster drang. Sie schwebten im Zentrum eines glühenden Wirbels. Jedes ihrer Atome schien mit höchster Ladung dahinzurasen, Teil einer Energie, die sich ausdehnte wie nach einem zweiten Urknall, Bezugspunkte schuf, Inseln im Chaos, Welten, einen Kosmos ihres Namens, unaufhaltsam, einzig, allesbeherrschend. Im Feuer ihrer Selbsterschaffung bogen sich die Bleistiftgesichter mit glühenden Rändern, erstrahlten und wurden zu Asche, um Zeit und Raum zu schaffen für Neues.
    Der Winkel der Sonnenschrägen verflachte sich, bis

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