Die dunkle Seite
mal ansatzweise.
Als Roth mir anbot, die stellvertretende Leitung der Abteilung zu übernehmen, reagierte Karl seltsam verletzt. Er drängte mich, meinen Job ganz aufzugeben. Das war komisch, schließlich hatte ihn ja angeblich meine Selbständigkeit so sehr fasziniert. Ich frage mich, ob das eine Diaspora der Zweisamkeit ist. Immer wollen wir dem Partner abgewöhnen, was uns an ihm gefallen hat, es könnte ja auch anderen gefallen. Karl hätte mich am liebsten weggeschlossen. Ich verstand nicht, was er meinte, als er sagte, es sei wegen der Kinder.
Ich fragte ihn, von welchen Kindern er überhaupt rede, und er wirkte noch verletzter und meinte, von unseren natürlich, von welchen denn sonst? Es war das erste Mal, daß er mich betrachtete, als sei ich ein Feind, also erklärte ich ihm, daß ich gerne Kinder hätte, nur spä ter. Er beharrte darauf, ich solle den Dienst quittieren. Er fand andere Gründe. Daß wir mehr Zeit füreinander hätten, sein Gehalt ausreichend sei für beide, ich es an seiner Seite nicht nötig hätte zu arbeiten. All das.
Gut, er war das Wichtigste in meinem Leben. Also konnte mein Job nur das Zweitwichtigste sein. Wieder ein Stück Logik aus der Algebra der Ehe. Ich stand kurz davor nachzugeben, aber etwas sagte mir, es sei falsch.
Wie ein Tsunami hat sich alles aufgebaut. Tsunamis, die gigantischen Wellen im Ozean, mehrere Kilometer lang und tief. Auf offener See heben sie einen Ozeanriesen ein bis zwei Zentimeter an, das ist alles. Unterseeisch wälzen sie sich auf die Küste zu, bis der ansteigende Untergrund sie abbremst und sich die gewaltige Masse bewegten Wassers in Sekundenschnelle auftürmt. Schockartig wächst der Tsunami aus völlig ruhiger See und reckt sich bis zu fünfzig Meter über die erstarrten Menschen, denen keine Zeit für nichts mehr bleibt. Er bricht über sie herein, trägt Schiffe kilometerweit ins Landesinnere, reißt Häuser und Städte ein, zerschmettert festgeglaubte Strukturen, ebnet ein, was als stabil galt, lehrt uns den Rückfall in die Urzeit.
Ich hätte nie geglaubt, daß Karl mich schlagen könnte. Ich hätte auch nie geglaubt, daß der Krakatau noch mal ausbricht. Ich hätte nie geglaubt, daß mir so was passieren könnte. Ich hätte nie geglaubt, daß jemand auf den Papst schießt.
Ich glaubte es selbst dann noch nicht, als ich mein Blut schmeckte.
Es gab keinen Anlaß. Wir waren auf einer Party gewesen. Ich hatte jede Menge Spaß, und als wir draußen auf der Straße waren, langte er mir eine. Ich hab nicht mal gesehen, wie er ausholte, nur daß plötzlich seine Faust in meinem Gesicht war. Der Schmerz spielt keine Rolle. Im Moment, da er dich schlägt, vergißt du, es schmerzhaft zu finden. Ich stand da, wir standen da, ich neben mir, betrachtete mir den Schlamassel und versuchte zu ergründen, was vorgefallen war. Ein Irrtum, das war schon mal klar. Dieses Vorkommnis war für jemand anderen gedacht, für ein anderes Paar, nicht für uns. Ich konnte nicht begreifen, daß eine dieser Hände, daß dieser Mann mich geschlagen hatte, das gehörte nicht in meine Ehe.
Zu Anfang verdrängst du schnell. Ich steckte diesen Schlag ein und leugnete ihn sofort. Ein Ausrutscher. Ach was, ein schlimmer Traum. Er würde so was niemals tun. Das ist überhaupt nicht passiert. Laß uns nach Hause gehen und so tun, als sei nichts gewesen.
Am nächsten Tag entschuldigte er sich. Er grämte sich so sehr, daß er mir schon wieder leid tat. Das machen sie immer, die Schläger.
Sie entschuldigen sich, um ihre eigene Welt wieder in Ordnung zu bringen, nicht die des Opfers.
Entweder geht man nach dem ersten Schlag oder nie. Aber den Ratschlag kann dir keiner geben, weil du dich schämst und schweigst. Überhaupt ist das mit den Ratschlägen so eine Sache.
Katastrophenspezialisten wohnen überall, nur nicht in Katastrophengebieten. Du denkst halt, der Krakatau ist einmal ausgebrochen, jetzt wird er Ruhe geben. Auf den Papst schießt keiner ein zweites Mal. Dein Mann wird eines Tages voller Zerknirschung daran denken, wie er ein einziges Mal im Leben die Kontrolle verloren hat. So stellst du dir das vor und versuchst es ihm recht zu machen, bis die zweite Überraschung ranfliegt, mitten in die Fresse.
Karl gewöhnte sich an, mich mit Argusaugen zu beobachten. Ich versuchte, ihn von diesem elenden Zeug runterzubringen, das er brauchte, um sich halbwegs zu stabilisieren. Er heulte und tat mir wieder leid. Dann schlug er zu. Ich hätte ihn nicht heulen sehen dürfen.
Weitere Kostenlose Bücher