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Die dunkle Seite

Die dunkle Seite

Titel: Die dunkle Seite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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sie ganz verschwanden und der Himmel sich zu einem bleiernen Rosablau verfärbte. Schwalbengeschwader schossen jubilierend ums Haus, stürzten sich in irrwitzigen Manövern auf Schwärme von Mücken. Die Straßenlaternen sprangen an, ungeachtet der verbliebenen Helligkeit, summend und selbstgefällig, bis ein klarer weißer Mond auf einer wolkigen See dahintrieb und ihnen die Schau stahl.
    Vera sah mit halbgeschlossenen Lidern zur Decke.
    Dunkel.

    Angenehm warm.
    Nein, dachte sie, so einfach ist die Vergangenheit nicht loszuwerden. Wozu auch? Sie ist und bleibt ein Teil, so wie Gliedmaßen an einem Körper. Die Vergangenheit zu leugnen heißt, dieses eine Leben zu leugnen, das man lebt. Und dieses Leben ist unteilbar. Um ein neues zu beginnen, muß man gestorben sein.
    Aber wenn die Vergangenheit Macht über uns gewinnt, werden wir zu Hüllen, die reden und sich bewegen. Wir sterben zweimal, und mindestens einmal zu früh.
    War die Macht gebrochen?
    Sie drehte den Kopf und betrachtete den Mann, dem sie gestattet hatte, sie zu küssen, zu lieben, sie im Arm zu halten, zu streicheln, zu bleiben.
    Warum Simon Bathge?
    Alles daran war falsch. Er war ihr Klient. Er hatte sie mehrfach belogen. Seine Nähe brachte die Nähe eines Psychopathen mit sich, der sie beide observierte, möglicherweise sogar in diesem Augenblick.
    Warum nicht die anderen?
    Einige waren wirklich nett gewesen. Zuvorkommend, witzig und charmant. Attraktiv. Gute Liebhaber, denen die Enttäuschung im Gesicht geschrieben stand, wenn Vera sie aus ihrem Leben warf, kaum daß sie einen Blick hineingeworfen hatten.
    Viele hatten sich redlich bemüht.
    Grauenhaft.
    Dieses redliche Bemühen, Erzeugen von Verbindlichkeit, klettenhafte Getue. Anrufe, Blumen, allzuschnell geäußerte Liebesbekundungen. Zukunftspläne. Beängstigend. Erdrückend. Erstickend.
    Dieses Verlangen, gib mir mehr. Warum darf ich dich nicht küssen?
    Wir haben miteinander geschlafen, warum darf ich dich nicht küssen? Gib mir, ich gebe dir, gib mir, ich gebe dir. Warum dies nicht, warum das nicht?
    Oh, Vera, kann ich dein verständnisvoller Partner sein ? Sag mir, was dich bedrückt. Wie kann ich dir helfen?
    He, kaputtes Spielzeug. Wie kann ich dich reparieren?
    Blöde Fragen.
    Ansprüche!
    Da, da ist die Tür. Vergiß nicht, deinen Geruch mitzunehmen.
    Bathge hatte sich nicht bemüht. Er hatte es ihr überlassen, sich zu bemühen.
    War es das?
    Sie rollte sich auf den Bauch und sah in ihr eigenes Gesicht, eines der vielen Porträts. Das bin nicht ich, dachte sie. Nur Linien und Proportionen. Handwerklich gelungen wie ein Türschloß.
    Sie fragte sich, wie es dem Holländer geglückt war, seine Seele in die Selbstporträts zu legen, die so analytisch und distanziert anmuteten und zugleich so voller Leben waren. Aber Van Gogh hatte sich seiner Existenz nicht zu versichern brauchen. Vielmehr schien er seinen Hunger nach Leben, diese überbordende, ungeordnete Energie, die zuviel war für seine physische Existenz, einfach in Öl übertragen zu haben. Sein Plan mußte gewesen sein, aus dem wirklichen Leben in das seiner Bilder überzuwechseln, die ihn überdauern würden, und es war ihm gelungen.
    Oh Gott, dachte sie, was für Gedanken nach einem guten Fick. Wie schön, so was denken zu können.
    »He«, sagte Bathge.
    Sein Zeigefinger fuhr ihre Wirbelsäule entlang.
    Wärme. Wohlbehagen.
    Sie hörte sich schnurren. Tief aus ihrem Innern heraus. Ein Geräusch, das sich nicht bewußt erzeugen ließ, sondern den Umständen folgte wie Zugvögel.
    Sie hatte es verstummt geglaubt.
    Er lächelte und stupste sie sacht gegen die Nase.
    »Die Knubbelnase«, sagte Vera.
    »Ja«, sagte er. »Ein bißchen knubbelig ist sie tatsächlich.«
    »Du sollst widersprechen«, brummte sie.

    »Es ist eine wunderschöne Knubbelnase. Wunderschön. Was sag test du, soll ich?«
    »Du sollst...« Sie reckte sich. »Weißt du was? Du hast den Schampus aufgemacht, jetzt bist du auch dafür verantwortlich. Du sollst die Gläser vollmachen.«
    Er lachte, robbte zur Flasche und füllte ihnen nach.
    »Worauf trinken wir?«
    »Ich weiß nicht. Auf die Freiheit, nicht ständig auf irgendwas trinken zu müssen, okay?«
    »Okay.«
    Sie legte den Kopf in die Armbeuge und sah ihn an. Seine Hand ruhte jetzt oberhalb ihrer Pobacken, sandte Ströme von Energie aus.
    Sie wünschte sich, er würde sie nie wieder von dort fortnehmen.
    Aber plötzlich kam ihr eine Idee, und sie sprang auf und holte ein Feuerzeug aus der Küche.

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