Die dunkle Seite
wurde der weiße Regen. Sturmböen kamen auf. Die Körner pieksten sie und stachen wie Nadelspitzen in ihre Haut, und alles um sie herum verschwand, bis Vera, die Hände vors Gesicht gepreßt, durch einen weißen Strudel gewirbelt wurde und kopfüber nach unten stürzte.
Jemand sagte etwas, und von einem auf den anderen Moment legte sich der Sturm. Sie rieb sich die Augen und setzte sich auf.
Ihr Schlafzimmer. Ihr Bett. Sie hatte geträumt.
Du solltest aufstehen, dachte sie. Es ist spät. Zu spät. Zu spät wofür? Draußen war es noch dunkel, aber sie schwang die Beine über die Bettkante und ging zur Schlafzimmertür.
Sand unter ihren Füßen.
Verschreckt blinzelte sie in grelles Licht. Eine Wüste erstreckte sich jenseits des Zimmers, ein in Bewegung erstarrter Ozean, nach allen Seiten gleichförmig. Inmitten der Ödnis zirkulierte eine Säule aus Sand und begann, sich zu etwas Vertrautem zu formen.
Erneut hörte sie die Stimme und erkannte plötzlich, was dort vor ihren Augen Gestalt annahm. Sie beschloß, wieder die warme, dämmrige Vertrautheit ihres Schlafzimmer aufzusuchen, aber als sie den Kopf drehte, um hinter sich zu sehen, war auch dort nichts als Wüste, endlos, totenstill, bewachsen mit Knoten struppigen Grases.
Ein gutes Stück entfernt stand Lubold und betrachtete sie ohne Antlitz.
Sie wußte, daß es Lubold war. Er stellte ihr eine Frage, und die Sandmassen, aus denen sein Körper bestand, gerieten leicht in Bewegung, rutschten durcheinander und verfestigten sich wieder.
Dann trat er auf sie zu.
Voller Angst wandte sie sich zur Seite, aber auch dort wartete er schon auf sie, weiß und gesichtslos. Seine Stimme rieselte auf sie herab und begrub sie unter Rätseln. Von Panik ergriffen, kämpfte sie sich frei, rang nach Atem, nur um ihn erneut vor sich treten zu sehen, zum Leben erwachter Wüstensand, entschlossen, sie unter seinen Fragen zu begraben. Es war offensichtlich, daß sie ihn nur vertreiben konnte, wenn sie seine Rätsel löste, aber die Sandmassen zogen sie immer weiter herab, und sie spürte, daß Lubold und die Wüste eins waren, daß sie in ihm versank und er sie zu einem Teil seiner selbst machte. Sie öffnete den Mund, um zu schreien. Augenblicklich füllte er sich mit feinem, weißen Sand, der ihre Luftröhre verstopfte und in ihre Lungen sickerte...
Mit letzter Kraftanstrengung schlug sie die Augen auf.
Einen Moment lang wirkte das Erlebnis, ersticken zu müssen, intensiv nach. Da war noch jemand mit ihr im Bett. Er raubte ihr den Platz und die Luft, und sie rückte hastig von ihm ab und setzte sich ein Stück auf.
Die Benommenheit wich.
Lubolds Sandrätsel rieselten aus Veras Kopf und machten dem vorangegangenen Abend Platz.
Wie ungewohnt, mit einem Mann an ihrer Seite aufzuwachen.
Gewöhnungsbedürftig. Jetzt, als sie Bathge daliegen sah, die Augen geschlossen und die Lippen leicht geöffnet, war sie einen Moment lang versucht, ihn zu wecken und ihn im wahrsten Sinne des Wortes in die Wüste zu schicken. Raus aus ihrer Wohnung, ihrem Leben. Den Tag alleine zu beginnen war einfacher. Ohne jemanden, dem sie Erstickungsträume verdankte.
Dann verflog der Spuk und wich wohliger Erinnerung. Ein Teil von ihr versuchte doch noch zu der Erkenntnis zu gelangen, vor der sie im Traum gestanden hatte. Dann gab sie auf, und ihr Bewußtsein löschte die Vision.
Gut so. Erkenntnisse in Träumen waren nichts wert.
Sie legte den Kopf auf seine Brust, lauschte seinen gleichmäßigen Atemzügen und dachte nach. Der Peilsender in dem Feuerzeug fiel ihr ein, das sie ihm geschenkt hatte. Sollte sie ihm endlich die Wahrheit sagen? Wem sollte sie vertrauen, wenn nicht ihm?
Wie würde er reagieren?
Plötzlich fröstelte sie trotz der Hitze, die der Tag schon um die frühe Zeit aussandte. Nein, zuviel Wahrheit. Zu früh. Das mit dem Feuerzeug konnte warten. Es war ein weichgekochter Kompromiß, den sie mit sich schloß, aber sie wollte das Thema noch nicht zur Sprache bringen. Nicht an diesem Morgen, in dem sie ruhten wie in einem Gespinst aus Hoffnungen, hauchzart und kaum fähig, die Last ihrer gemeinsamen Einsamkeit zu tragen. Ohnehin würden sie allzuschnell zurückfinden in die Realität mit ihren Üskers und Solwegyns, Marmanns und Lubolds, zu Bathges Ängsten und zu ihren eigenen.
Leise stand sie auf und ging durch das Wohnzimmer in die Küche.
Die halbvolle Flasche Prosecco stand noch zwischen den herumliegenden Zeichnungen, flankiert von zwei leeren Gläsern.
Über den
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