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Die dunkle Seite

Die dunkle Seite

Titel: Die dunkle Seite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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statt. Körperliche Strapazen. Nachtmärsche. Angriffe, Gefangennahmen, Verhöre, Flucht durchs Unterholz, Hunger, Durst, Belagerung, Durchhalten bis zum letzten Atemzug. Natürlich war er hoffnungslos überfordert, aber der Alte hatte kein Pardon. Je mehr der Junge um Gnade bat, desto schlimmere Bürden erlegte ihm der Vater auf.«
    »Männer«, zischte Vera.
    »Der Herr erhalte Ihnen Ihre Pauschalisierungen. Vertiefen Sie sich mal in die Geschichten verhaltensgestörter Kinder, die von ihren Müttern malträtiert wurden. Es ist immer das gleiche. Man verlangt dem Kind das Unmögliche ab, wohl wissend, daß es scheitern wird, um es dann unverhältnismäßig hart zu bestrafen. Auch die Vergangenheit dieser Eltern müßten Sie wiederum durchleuchten, um zu verstehen, warum dieser Teufelskreis grundsätzlich in einer Katastrophe endet. Jens, wenn er dem Vater mal wieder nicht gerecht geworden war, wurde in einen Kellerraum gesperrt und mit einem Gummischlauch verprügelt. Oder er mußte die ganze Nacht lang in einer Badewanne mit eiskaltem Wasser ausharren. Manchmal wurde er an einen Baum gebunden, so, daß die Füße über dem Boden hingen. Dann wieder das gleiche Spiel. Bettelte der Junge den Vater an, er solle aufhören, fühlte der sich erst richtig angestachelt. Um Gnade zu bitten hieß, Grausamkeit zu provozieren, soviel hat Jens in dieser Zeit gelernt. Ich würde sagen, er hatte nicht die geringste Chance, ein normaler Mensch zu werden.«

    »Mein Gott« sagte Vera. »Wie haben Sie das alles rausbekommen?«
    Halm aß einen Keks und lächelte. »Ich schaffte es, Lubold einweisen zu lassen.«
    »Er war in ... der Psychiatrie?«
    »Kurz. Lubold tobte, als wir ihm damit kamen. Seine Reaktion war unangemessen, er sollte sich ja lediglich einigen Tests unterziehen.
    Für mich das erste Anzeichen, daß wir es tatsächlich mit einem Psychopathen zu tun hatten.«
    »Haben Sie mit seinen Eltern gesprochen?«
    »Das hätten wir gerne, aber die Mutter war früh gestorben, und der Vater diente in Übersee und verweigerte jeden Kommentar.
    Mittlerweile ist auch er tot. Aber Lubolds Aufenthalt in der Psychiatrischen förderte auch so schon eine Menge zutage. Er hat seinen Vater abgrundtief gehaßt und dennoch versucht, es ihm recht zu machen, selbst als Erwachsener. Aber wenn am Ende aller Bemü‐
    hungen immer neue Strafen stehen, kann man nur scheitern. Und die letzte und konsequenteste Strafe für Versagen ist der Tod. Jens Lubold hatte also zwei Möglichkeiten. Sich selbst zu richten oder den Wahn seines Vaters auf andere zu projizieren. Er führte am Beispiel des Soldaten in jener Übung konsequent weiter, was sein Vater an ihm begonnen hatte. Es war seine einzige Chance, der Situation Herr zu werden: die Rolle des Vaters einzunehmen. Nur wenn er selber sich als grausam erwies, konnte er den ungeheuren Druck von sich nehmen, dem er sonst nicht standgehalten hätte. Das ist der Grund, warum er Hemmschwellen gezielt abtrainierte. Als der verwundete Rekrut ihn anflehte, mit dem Manöver aufzuhören, stachelte ihn das erst richtig an, so wie damals seinen Vater, wenn er selber um Gnade gebettelt hatte. Aus all diesen Gründen denke ich, daß Jens Lubold den Rekruten ermordet hat.«
    »Aber Sie konnten es nicht beweisen.«
    Halm wiegte den Kopf.
    »Manche waren geneigt, sich meiner Meinung anzuschließen. Das Problem war und ist, daß eine Struktur, die auf der Basis von Befehl und Gehorsam funktioniert, mit Psychologie nicht viel anfangen kann. Es wäre überhaupt sehr unschön für die Armee gewesen, den Fall öffentlich verhandelt zu wissen, und das hätte sich im Falle einer Mordanklage kaum vermeiden lassen. Also einigten wir uns auf die unehrenhafte Entlassung.«
    Vera versuchte, die Geschichte zu verdauen.
    »Herr Oberstleutnant«, sagte sie schließlich. »Würden Sie Lubold für fähig halten, jemanden zu Tode zu foltern?«
    »Natürlich«, sagte Halm gleichmütig.
    »Was müßte geschehen, damit er so etwas tut?«
    Der alte Mann zog die Stirn in Falten.
    »Ich bin nicht das Orakel von Delphi, meine Liebe«, sagte er.
    »Aber fest steht, daß Lubold die Vorstellung unmotivierten Handelns zuwider ist. Er läßt seiner Wut nicht einfach freien Lauf. Lubold braucht die Illusion des Sachzwangs. Daß seine Taten Sinn ergeben. So wie das Manöver. Nennen Sie Gründe, und ich sage Ihnen, ob er der Mann ist, den Sie suchen.«
    Vera schwieg überrascht.
    »Sie suchen ihn doch«, sagte Halm.
    »Ja, schon, aber ...«
    »Können

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