Die dunkle Seite
die Wahl, sich zu wehren, zu schreien und gegen ihren Peiniger anzukämpfen – oder aber zu kooperieren. Psychologen hatten irgendwann begonnen, zur Kooperation zu raten. Das klang verständig, brachte milde Vernunft und männliche Selbstgerechtigkeit sogar auf einen Nenner. Tatsächlich konnte es sinnvoll sein, auf den Täter einzugehen, mitzumachen und sogar Lust vorzutäuschen.
Es konnte funktionieren.
Aber was, wenn der Vergewaltiger in die fixe Idee verrannt war, alle Frauen seien Huren und Schlampen, die es mit jedem trieben, nur nicht mit ihm? Würde er nicht bestätigt finden, was er immer schon geahnt hatte? Man konnte sie überfallen, quälen und zum Sex zwingen, sie genossen es noch! Sie waren Huren und Schlampen!
Das vermeintlich kluge Einlenken fachte seine Wut erst richtig an und führte letzten Endes zum Mord.
Seltsamerweise schienen Richter und Anwälte immer noch der Meinung zu sein, als Opfer habe man sich ruhig, besonnen und richtig zu verhalten, auch wenn man gerade von zwei wildgewordenen Zentnern Mensch zu Boden gedrückt und geprügelt wurde, der zudem versuchte, einzudringen. Aber was war richtig? Existierte ein richtig oder falsch? Konnte man angesichts der extremen Unterschiede in der Psyche von Tätern überhaupt richtig oder falsch reagieren?
Es gab Juristen, deren Verständnis in Vergewaltigungsfällen einzig auf vorgefertigten Verhaltensmustern gründete. Daraus leitete sich ihr Faktenverständnis ab. Danach bewerteten sie. Danach urteilten sie. Nicht nach dem, was in der Frau vorgegangen sein mußte, als sie gepackt und brutal geschlagen wurde, als man ihr die Kleider vom Leib riß und ihr ein Messer an die Kehle setzte, als man ihr drohte, sie aufzuschlitzen oder zu quälen. Die Fakten sagten, die Frau hat geschrien, und da hat er ihr eben den Mund zugehalten, bis sie erstickte. Sie hätte nicht schreien dürfen. Die Fakten sagten, die Frau hat nicht geschrien, also hat sie auch nicht alles versucht, die Vergewaltigung zu verhindern. Und so weiter, und so fort.
Ebensowenig fragten sie danach, was in dem Täter vorgegangen war. Warum er die Tat abgebrochen hatte. Warum er sich in seiner Brutalität gesteigert hatte. Warum er die Frau hatte laufen lassen.
Warum er sie ermordet hatte. Was geschehen war und dann geschehen war und dann geschehen war und davor und vor dem Da vor, daß es so weit hatte kommen können. Sie schienen Opfer und Täter mit Entwürfen von Opfern und Tätern zu verwechseln, die beide einem vorgegebenen Schema zu folgen hatten. Und machten beiden eigentlich nur den Vorwurf, sich nicht daran gehalten zu haben. Einfach, weil sie sich nichts anderes vorstellen konnten.
Selbstgefällig und publikumswirksam stocherten sie im Vorleben der Beteiligten herum, ohne zu registrieren, daß der so gern zitierte leichte Lebenswandel und die schwere Kindheit ebensolche Klischees waren wie das Märchen von der reinen Unschuld und der Bestie. Sie folgten anwaltlichen Ritualen, in denen scheinbar psychologische Argumente Versatzrhetorik darstellten und zuletzt der siegte, der das meiste davon aus dem Hut zaubern konnte.
Auf der Strecke blieben die Opfer. Manchmal auch die Täter. Speziell, was vergewaltigte Frauen im Gerichtssaal zu erdulden hatten, war oft schlimmer als alles, was man ihnen zuvor angetan hatte.
Nicht, weil Richter und Anwälte ein perfides Vergnügen daran fanden, sie weiterhin zu quälen. Sondern weil ihre beschränkte Phantasie einfach nicht ausreichte, sich in die jeweilige Situation hineinzudenken. Das Opfer mit den Augen des Täters und den Täter mit den Augen des Opfers zu sehen. Nachzuvollziehen, was wirklich geschehen war. Es ergründen zu wollen. Sie verstanden nicht, daß ihre Aufgabe weniger darin bestand, den Täter für das Geschehene zu bestrafen, als vielmehr zu verhindern, daß er es wieder tat, was Verstehen erforderte. Sie schematisierten Fälle und degradierten Opfer wie Täter zu Klischees ihrer selbst. Sie verurteilten oder sprachen frei, aber sie hatten auch nach dem Prozeß keine Erklärung, sondern nur ein Resultat.
Natürlich war es einfacher, sich an Daten, Schemata und Klischees zu halten.
Es vereinfachte die Rechtsprechung. Es beschleunigte die Arbeit der Polizei in vielerlei Hinsicht. Und es entlastete das Gewissen.
Denn der Faktenmensch, der sich keine Individuen vorstellen konnte und darum niemals individuelle, sondern immer nur schablonierte Entscheidungen traf, konnte nichts verschulden. Es war nicht seine Meinung, um
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