Die dunkle Seite
Zwischen Auge und Umgebung schob sich die virtuelle Oberfläche, weil der Computer mehr sah als der Mensch, beziehungsweise das sah, worauf es ankam.
Der nächste Schritt würde die Steuerung durch Gedankenkraft sein. Es gab Maschinen, die bereits mit brain boxes flogen. Testweise.
Und es gab einen Konzern, der begonnen hatte, Autos damit auszustatten. Das Drehen an Steuerrädern würde der Vergangenheit angehören. Zurücklehnen, Brille aufsetzen, konzentrieren. Das war alles.
Inmitten der Blechlawine, das nächste Jahrtausend vor Augen, beschloß Vera, die Einladung zum Essen anzunehmen, die der Leiter der Abteilung Künstliche Intelligenz vor kurzem ausgesprochen hatte. Natürlich wußte sie genau, was er von ihr wollte. Aber sie konnte es so einrichten, daß er glaubte, etwas zu bekommen, während sie etwas bekam.
Als es endlich weiterging, war Bathge schon auf der Rheinuferstraße. Vera gab sich keine Mühe, ihn einzuholen. Sie behielt den Punkt im Auge und sah, wie er am Schokoladenmuseum vorbeizog und das Hafenamt passierte. Kurz hinter der Südbrücke bog er plötzlich scharf zum Fluß hin ab und stoppte.
Vera fuhr weiter. Sie schwenkte in die Rheinuferstraße ein. Hinter dem Schokoladenmuseum parkte sie auf dem Seitenstreifen und starrte auf den Monitor.
Der Punkt bewegte sich sehr nahe am Fluß entlang, nun aber erheblich langsamer. Offenbar hatte Bathge den Wagen verlassen und ging zu Fuß weiter.
Soweit Vera sich erinnerte, gab es dort nur halbverfallene Fabrikbauten und leerstehende Kontore. Ein paar rostige Kähne lagen vor Anker. Hier und da wurde gearbeitet, aber im großen und ganzen wartete das Gelände auf die längst fällige Totalsanierung.
Sie ließ zwei Minuten verstreichen, bis der Punkt zum Stillstand gekommen war, dann nahm sie die Verfolgung wieder auf. Der Boxster rollte auf der rechten Spur unter der Severinsbrücke hindurch, passierte das Hafenamt, die Einmündung zum Ubierring und die Alte Universität. Unter der Südbrücke parkte sie. Sie öffnete ein Fach, entnahm ihm eine Perücke und mutierte vom blonden Sechsmillimeterkopf zur langgelockten Brünetten. Rasch schminkte sie sich die Lippen dunkler, zog den Blazer aus, legte ihn sorgfältig zusammen und deponierte ihn auf dem Beifahrersitz. Der Blazer war schwarz, so hatte Bathge sie eben noch gesehen. Mit dem wei‐
ßen, ärmellosen Top darunter und der anderen Frisur hätte ihre eigene Mutter sie nicht wiedererkannt.
Vera grinste freudlos. Wann hätte die jemals irgendwen erkannt außer sich selber.
Uninteressant.
Prüfend betrachtete sie sich im Rückspiegel.
Die Verkleidungsnummer erschien den meisten Detektiven lächerlich und kompliziert. Vera fand sie praktisch und einfach. Sie war alt wie die Welt, aber dennoch fielen alle mit schöner Regelmäßigkeit darauf rein.
Sie hatte die Langhaarperücke eine ganze Weile nicht getragen.
Langsam drehte sie den Kopf hin und her und spürte die Vergangenheit heraufsteigen.
Vera neben Karl im Wagen, mit wehender Mähne ...
Ihre Finger griffen nach einer Sonnenbrille, schoben sie auf den Nasenrücken. Mit einem Schwung war sie aus dem Boxster, schloß ab und stöckelte mit Hüftschwung über die Fahrbahn hinüber zur Rheinseite. Die portable Station hatte sie im Wagen gelassen. Das Gerät hätte sie nur behindert. Diese Gegend war keine Zoom-Region. Sie war überhaupt keine Region, in der es irgend etwas gab außer Ratten, Dreck und Unbehagen.
Die Alte Werft.
Ein Gebäudekomplex, der sich über eine Distanz von gut zweihundert Metern am Ufer entlangzog. Wenig einladend. Dunkelbraunrote Kästen mit zerschlagenen Scheiben. Was an Scherben geblieben war, wuchs aus den Fensterlöchern wie verfaulte Zähne.
Dahinter war alles schwarz.
Vera trat durch ein verrostetes Tor in einen Vorhof und sah sich um. Überall lag Gerümpel. Ein paar Wagen parkten jenseits des Gitters zur Straße hin. Der blaue BMW war nicht darunter. Auf dem Gelände selber schien kein Mensch zu sein.
Sie legte den Kopf in den Nacken und suchte die Fassaden ab. Wä re sie schreckhaft gewesen, hätte sie die Atmosphäre als unheimlich empfunden. So flößte ihr die Verkommenheit nur Abscheu ein. Es war hellichter Tag. Als Frau mit langen brünetten Haaren und einem Nichts von Oberteil hier durchzulaufen, nachdem es dämmerte, wäre mit Sicherheit keine gute Idee gewesen. Nicht jeder beherrschte drei Kampfsportarten.
Mit zügigen, geschäftsmäßigen Schritten lief sie weiter und ließ den Blick
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