Die dunkle Seite
Fenster. Der Rudolfplatz entstand als Festbild in Vergrößerung, so daß sie sehen konnte, wohin genau sich der rote Punkt bewegte. Der Anblick hatte etwas Gespenstisches. Das Holiday Inn, das Hahnentor und die umliegenden Gebäude waren als strahlende grüne Linien erkennbar. Eine virtuelle Stadt, die zur Abwechslung einer realen nachempfunden war.
Leider war das Programm noch nicht so weit, vertikale Standorte anzuzeigen. Vera konnte nur vermuten, daß Bathge sich augenblicklich in die Tiefe bewegte.
Die U‐Bahn fiel aus. Sie lag unterhalb der Straße. Bathge ging in die entgegengesetzte Richtung. Entweder wollte er ins Holiday Inn oder in das darunterliegende Parkhaus.
»Zoom 3.5!«
Es war das Parkhaus.
Sie trat aufs Gas und schaffte es, rechtzeitig gegenüber der Ausfahrt zu sein, als der rote Punkt sich auf dem Monitor mit wachsender Geschwindigkeit auf sie zubewegte.
Nacheinander verließen vier Fahrzeuge das Parkhaus. Vera kniff die Augen zusammen.
In welchem saß Bathge?
Sie hatte es nicht erkennen können. Fürs erste blieb ihr nichts übrig, als an allen gleichzeitig dranzubleiben.
»Move«, befahl sie.
Die starre Ansicht des Rudolfplatzes verschwand, der Zoom schaltete sich automatisch aus. Jetzt war der Stadtplan wieder in ständiger Bewegung.
An der Ringkreuzung bogen zwei der Wagen in unterschiedliche Richtungen ab. Der Punkt bewegte sich weiter geradeaus.
Die Auswahl reduzierte sich auf einen dunkelblauen BMW und einen Mitsubishi mit Rallyestreifen und gewaltigem Spoileraufsatz.
Zwischen Vera und den beiden Wagen waren drei andere Fahrzeuge. Genug Sicherheitsabstand, um nicht gesehen zu werden.
Bald würde sie wissen, in welchem Wagen Bathge saß.
Sie schloß eine schnelle Wette mit sich selber ab und tippte auf den BMW. Der Mitsubishi paßte nicht zu ihm. Aber noch fuhren beide in Richtung Rhein.
Während sie versuchte, sich auf den Verkehr zu konzentrieren, wanderten ihre Augen zwischen den Wagen vor ihr und dem Punkt auf dem Bildschirm hin‐ und her.
Neben ihr dröhnte schweres Motorengeräusch.
Ein Tanklaster drängte rüber. Vera gab Gas. Der Laster hupte und beschleunigte seinerseits, bis er auf Höhe des Mitsubishi war. Wieder hupte er und blinkte, um auf die linke Spur zu gelangen.
Der Mitsubishi bremste und ließ ihn vor.
Von einem Moment auf den anderen kam der Verkehr zum Erlie gen. Der Laster fand zuwenig Platz und blockierte nun zwei Spuren. Vera fluchte und starrte auf den Bildschirm. Der rote Punkt machte sich mit erhöhter Geschwindigkeit davon, während der Mitsubishi im Schrittempo hinter dem Lkw herzockelte. Weiter vorne sah sie eine Ampel auf Rot springen und wußte, daß der BMW entwischt war.
»Scheiße!« schrie sie.
Auf dem Bildschirm erschien ERROR, dann wieder der Stadtplan.
»Scheiße« war dem Programm nicht geläufig.
Sie sah nach rechts, aber es war unmöglich, rüberzukommen. Auf den Nebenspuren drängten sich die metallenen Leiber der Autos.
Ungeduldig wartete sie, bis die Ampel wieder auf Grün umschaltete. Der Tanklaster brauchte quälend lange, um seine vierzig Tonnen in Bewegung zu setzen. Als Vera endlich bis auf wenige Meter an die Ampel herangekommen war, sprang sie erneut auf Rot.
Langsam ließ sie die Luft entweichen und lehnte sich zurück.
Dann eben nicht.
Sie würde Bathge auch so finden. Der Sender zeigte einigermaßen präzise an, wo er war. Nur daß sie jetzt nicht sehen konnte, welchen Hauseingang er betrat. Die Zoom‐Funktionen erfaßten die wesentlichen Plätze und größten Straßen der Stadt. Um jeden Straßenzug im Detail heranzuholen, war das Programm nicht ausgefeilt genug. Es unterlag Unschärferelationen von zehn bis zwanzig Metern. Sie hätte auf das normale Ortungsprogramm umschalten können, mit dem die Polizei seit Jahrzehnten arbeitete, aber dann wäre ihr die Ansicht des Stadtplans verlorengegangen. Für eine Verfolgung wie diese war die grafische Darstellung unerläßlich. Vera wußte, daß der Prototyp der nächsten Generation bereits vorlag und völlig neue Möglichkeiten eröffnete. Keine portable Station mehr, sondern etwas, das man sich wie eine Sonnenbrille auf die Nase setzte, um die Welt in Wärmeabstufungen zu erleben oder als transparente Struktur, die es ermöglichte, gesuchte Objekte durch mehrere Häuserblocks hindurch wahrzunehmen. Der Computer digitalisierte das gesamte Umfeld und übertrug es auf die Oberfläche der Cyberbrille.
Nur moderne Kampfflugzeuge waren ähnlich ausgestattet.
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