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Die dunkle Seite

Die dunkle Seite

Titel: Die dunkle Seite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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flüsterte sie.
    Er grinste schiefmäulig.
    »Reste davon.«

22.30 Uhr. Menemenci
    Die Wohnung war klein, düster und beherrscht von unzeitgemäßen Brauntönen. Hin und wieder wünschte sich Arik Menemenci einen Grund, das zu ändern. Er fand keinen.
    Inmitten der Verwöhntheit erhob sich schlank und glänzend ein Turm mit Leuchtanzeigen. Er stand da, als habe eine fremde Macht ihn abgestellt, ähnlich wie den Monolithen in Kubricks 2001, um die Menschen auf den Weg der Erkenntnis zu bringen. Aus seinen Tiefen erklang jedoch nicht György Ligeti wie im Film, sondern die 1. Symphonie von Gustav Mahler in der Einspielung des Chicago Symphony Orchestra unter der Leitung Leonard Bernsteins.
    Menemenci lehnte mit halbgeschlossenen Lidern in dem Sessel, den er dort plaziert hatte, wo sich die Schallkegel der Boxen überschnitten. Die Finger seiner rechten Hand umklammerten ein Buch mit dem Titel »Fremdenlegion – Ausbildung, Bewaffnung, Einsatz«.
    Er hielt es gegen den Bauch gepreßt, als könne es die Schmerzen unter der gewaltigen Wölbung lindern.
    Ich werde Krebs bekommen, dachte er. Es ist nur eine Frage der Zeit. Ich werde daran sterben, daß die Gesamtheit aller üblen Subjekte im Großraum Köln meine Zellen frißt. Sie werden siegen, und ich kann nichts dagegen tun.
    Unerfindlicherweise war sein Arzt anderer Meinung und riet ihm, seine Psyche in Ordnung zu bringen.
    Was wußte der schon!
    Menemenci richtete sich ein Stück auf und griff nach dem 94er Les Terrasses, der so unvergleichlich nach Brombeeren schmeckte, daß er sich ein zweites Glas erlaubte. In letzter Zeit trank er fast ausschließlich Wasser und Säfte. Regelmäßiger Genuß von Alkohol langweilte ihn. Aber dieser Wein war etwas ebenso Außergewöhnliches wie Bernstein mit seinen großen Ohren und dem leid‐ und lustvollen Blick unter den schwarzwuchernden Brauen.
    Mit dem Essen nahm es Menemenci weniger genau. Ein Fluch!

    Sein Körper schien keine Sättigung zu kennen. Mitunter war es ihm, als lenke ihn die Fresserei von irgend etwas Offensichtlichem und Wichtigem ab, das er seit Jahren übersah, einer elementaren Erkenntnis, die sein Leben von Grund auf verändern könnte, wenn er sich ihrer nur bewußt würde, und er begann danach zu suchen.
    Dann wieder fragte er sich, warum er mit zweiundfünfzig sein Leben ändern sollte.
    Auch dafür zeigte sich kein Grund.
    Mahlers Klänge durchwoben die Räume. Menemenci schlug das Buch auf und blätterte darin herum. Bis heute hatte er von der Fremdenlegion immer nur eine verschwommene Vorstellung gehabt. Hartgesottene Männer mit weißen Mützen, die sich in Marlene Dietrich verliebten und dann weiterziehen mußten. Der Abschaum der Gesellschaft, wie er sich erinnerte. Fahnenflüchtige, Schwerverbrecher, Schuldner und anderer Auswurf. Entwurzelte aller Nationen, denen die Legion zur Familie geworden war, die einen mörderischen Drill über sich ergehen ließen, um den schmalen Grat zwischen Abenteuer und Verderben entlangbalancieren zu dürfen, hungrig nach Erleben. Und demgegenüber ein seltsamer Ehrenkodex bis in den Tod, fast eine Sehnsucht, aus der Welt gerissen zu werden, die letzte aller Fluchten.
    Aber die Legion hatte an ihrem Image gearbeitet. Augenblicklich dienten rund fünfzigtausend Legionäre in Europa, Afrika und Südamerika, im Indischen und Pazifischen Ozean, vertraten die Interessen Frankreichs und nahmen sogar Aufgaben der Friedenssicherung wahr. Ein neues Betätigungsfeld für eine Offensivarmee, der man seit ihrer Gründung 1831 das höchste Maß an kollektiver Aggression bescheinigte, das eine Armee je ins Feld geführt hatte. Die Wölfe waren nicht unbedingt zu Lämmern geworden, aber sie trugen das Fell modisch gelockt. Die Legion hatte sich rehabilitiert, ohne ganz aus dem Zwielicht herauszutreten, das letzten Endes ihren Reiz ausmachte.
    Brachte eine Armee, ungeachtet ihrer Härte und Moral, Ungeheuer hervor?
    Oder erschufen sie sich selber?
    Menemenci nippte an seinem Glas. Die Frage beschäftigte die Kriminalpsychologie mit schöner Regelmäßigkeit: Werden Mörder, insbesondere Serienkiller, geboren oder geformt ? Die meisten entstanden, weil die Gesellschaft sie entstehen ließ. Liebesentzug, physische und psychische Folter, traumatische Kindheit, starkes Empfinden von Minderwertigkeit, Ausgestoßen‐ und Anderssein, all das ließ die Monster erst wachsen, bis sie ihre Wut nach außen richteten. Bill Tafoya vom FBI, einer der Pioniere moderner Täterprofilerstellung,

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