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Die dunkle Seite

Die dunkle Seite

Titel: Die dunkle Seite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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hatte nach Jahren in der Spezialeinheit für Serienverbrechen resümiert, die Gesellschaft brauche nicht mehr Polizei, sondern eine Armee von Sozialarbeitern und dafür ein Budget in Höhe dessen, was der Golfkrieg verschlungen hatte. John Douglas, der auf psychologischem Wege mehr Serienkiller zur Strecke gebracht hatte als jeder andere, blieb nur die schlichte Feststellung: Wir brauchen mehr Liebe.
    Angesichts dessen, was manche der schwarzen Seelen trieb, war das ein nachvollziehbarer Standpunkt. Im Fall einiger Sadisten allerdings, die Vergnügen daran fanden, Frauen in eigens dafür hergerichteten Lieferwagen zu Tode zu foltern, wie Lawrence Bittaker und Roy Norris es Anfang der Achtziger mehrfach getan hatten, fragte sich Menemenci, ob der Leibhaftige nicht doch bisweilen Kinder zeugte, die in menschlicher Gestalt über den Erdball wandelten, ohne je etwas anderes gewesen zu sein als das personifizierte, gewollte Grauen, das Böse an sich.
    Geistige Verwirrung, oft und gerne herangezogen, sprach nach Menemencis Ansicht kaum einen Täter von seiner Schuld frei. War er nicht definitiv wahnsinnig und unfähig, sein Handeln in der realen Welt zu verstehen, konnte er wählen. Schmerzen zufügen oder nicht. Töten oder nicht. Er hatte die freie Entscheidung.
    Wahre Verrückte fing man leicht.
    Psychopathen nicht.

    Üskers Mörder war kein Wahnsinniger. Er hätte ein Teufel sein können, wäre da nicht die Sache mit den Bauchschüssen gewesen.
    Kriminelle schossen ihre Opfer fast ausschließlich in Kopf, Brust oder Rücken.
    Wie kam man an einen Bauchschuß?
    Im Krieg, dachte Menemenci.
    Natürlich!
    Und die Fremdenlegion führt Kriege.
    Er ging es durch. Üsker und sein Mörder hatten gemeinsam in der Legion gedient. Vorstellbar. Da gab es diesen Brief in seinen Unterlagen. Jemand wollte, daß er sich rekrutieren ließ, jemand, den er schon vor der Legion gekannt hatte, vielleicht aus Köln. Würde man auf Üskers Spuren wandeln bis zum Tag der Rekrutierung, müßte dieser Jemand in Erscheinung treten. Dann nachforschen, mit wem Üsker in der Legion besonders oft zusammengewesen war, Parallelen herstellen ...
    Genau hier lag das Problem.
    Wir haben nichts zu verbergen, wurde ein General der Legion in dem Buch zitiert, außer vielleicht das Vorleben unserer Legionäre. Augenzwinkernd formuliert. In Tat und Wahrheit verbarg die Legion Frankreichs fremde Söhne durchaus, wenn sie es wünschten. Aus einem gebürtigen Londoner mit Namen Trevor Brown wurde über
    Nacht Karl Schwan aus München. Die Legion gewährte die totale Anonymität für jeden, der sich partout nicht finden lassen wollte.
    Üskers Mörder konnte jeden Namen getragen haben.
    Menemenci schürzte unwillig die Lippen.
    Üsker war der Legion im Frühjahr 1985 beigetreten. Sie würden sich der mühsamen Aufgabe unterziehen müssen, herauszufinden, wer aus Üskers Umfeld in dieser Zeit noch rekrutiert worden war.
    Der Brief war ein Hinweis, aber vielleicht nicht der ausschlaggebende.
    Ein fast chancenloses Unterfangen. Viele traten der Legion ja eben darum bei, damit man ihren weiteren Weg nicht nachverfolgen konnte. Ebensogut mochte es sein, daß Üsker seinen Mörder erst in Frankreich oder an einem der weltweiten Stützpunkte kennengelernt hatte.
    Wer sollte das alles recherchieren?
    Krantz.
    Der Soundso und der Soundso wären auch schon da...
    Die meisten Namen aus Üskers Briefen und Aufzeichnungen wa ren noch nicht überprüft. Und mindestens zwei bezogen sich eindeutig auf die Legion.
    Krantz würde ihn zur Hölle wünschen.
    Menemenci gähnte und verkorkte den wunderbaren Rotwein.
    Mahler und Bernstein hatten den lackschwarzen Turm in der Mitte des Raumes verlassen, er war nun ein Monument der Stille. Menemenci wuchtete sich aus dem Sessel, versuchte seine Schmerzen zu ignorieren und überlegte, wen er anrufen könnte, um ein bißchen über Belanglosigkeiten zu reden.
    Eine Weile kratzte er sich das Kinn.
    Dann entnahm er Bernstein dem Turm, legte eine andere silberne Scheibe in den CD‐Player und vertraute sich dem Trost Tschaikowskis an.

23.50 Uhr. Wohnung
    Vera lauschte.
    Mit dem Zeichenblock auf den Knien forschte sie nach Lebenszeichen. Irgend etwas, das von der Straße heraufdringen würde oder vom Flur. In letzter Zeit hatte sie kaum noch die schleifenden Schritte des alten Mannes gehört, der unter ihr wohnte und nach Mitternacht gerne das Haus verließ, um eine merkwürdig deformierte Promenadenmischung durch die Straßen zu führen.

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