Die dunkle Seite
Früher hatte sie die Uhr danach stellen können. Einmal war sie hinaus an die Balustrade des Treppenhauses getreten und hatte seinen Schatten über die Stufen kriechen sehen, gezogen von ungeduldig scharrenden Hundepfoten. Sie war drauf und dran gewesen, ihn zu fragen, was ihn so spät noch umtrieb. Der Köter konnte es nicht sein, das ließ sich früher erledigen. Wonach suchte der alte Mann im Dunkeln, was der Tag nicht preisgab?
Unter welchem Traum litt er?
Was immer ihn in Bewegung hielt, schien seinen Einfluß verloren zu haben, denn die Exkursionen fanden seltener statt. Eine Zeitlang hatte sie befürchtet, er könne gestorben oder weggezogen sein, und zugleich Befremdung empfunden angesichts ihrer Angst um einen Unbekannten, mit dem sie kaum je ein Wort gewechselt hatte. Das Scharren und Schlurfen war ihr vertraut geworden. Wenn einem die Stille den Atem raubt, beginnt man, sich mit Geräuschen anzufreunden.
Das war in Ordnung so. Keine Frage, alleine aufzuwachen. Wen sie für die Dauer weniger Stunden mitnahm, hatte zu verschwinden, bevor Hände, Mund und Unterleib zu einer Person zusammenfanden, die Auseinandersetzung forderte.
Sex war gut. Ruhe war gut.
Nur die Stille war oft grausam und dröhnend wie von Paukenschlägen.
Vera warf einen Blick in den Standspiegel und betrachtete prüfend das neue Selbstporträt, das sie gezeichnet hatte. Sie versuchte herauszufinden, ob das Lächeln zu den Augen paßte. Das Bild war besser gelungen war als dasjenige, das Bathge gesehen hatte. Einen Moment lang freute sie sich darauf, es ihm zu zeigen. Im gleichen Augenblick erschien ihr der Gedanke absurd und ärgerlich. Er war ihr Klient. Auch wenn sie ihn mochte, durfte sie nicht zulassen, daß er Macht über sie gewann. Es war nicht an ihm, Vera Gemini einer Beurteilung zu unterwerfen, weder sie noch ihr Konterfei. Es war einzig und alleine ihr Ding.
Mochte sie ihn?
Sie trennte das Blatt ab und erhob sich von dem Drehhocker, auf dem sie die letzte Stunde zugebracht hatte. Während sie den Wohnraum durchquerte, fiel ihr ein, daß sie Kerzen kaufen mußte. In den Leuchtern, die überall wie Schilf aus dem dunklen Parkett herauswuchsen, zerschmolzen nur noch Stumpen. Sie liebte es, in einem Meer huschender, atmender Lichter zu baden. Nie hätte sie Kerzen in ihrem Büro entzündet. Nie brannte eine einzige Kerze, wenn sie die Zeit bis kurz vor Morgengrauen mit jemandem teilte. Die Kerzen flackerten ausschließlich für sie. Sie gaben Dinge preis, die niemanden etwas angingen.
Veras Licht war zigfach und unteilbar.
Augenblicklich mußte sie sich mit Halogen und dem Glimmen der drei Monitore im Nebenraum begnügen. Der Terminal war ihre Nabelschnur zur Detektei, wenn sich die Arbeit zu Hause fortsetzte.
Versonnen trat sie zu einem Zeichenschrank, zog die obere Schublade auf und legte das Porträt zu den anderen.
Bathge hatte sie nach dem Gespräch im Rheinpark, am Ende seiner monologisierten Vergangenheit, nicht noch einmal ersucht, für ihn zu arbeiten. Ebensowenig hatte er von ihr verlangt, ihm zu glauben.
Als feststand, daß er sie um nichts bitten würde, hatte sie von sich aus zugesagt, Marmann weiterzusuchen, durchglüht von einem plötzlichen Vertrauen, dessen Heftigkeit sie irritierte und das augenblicklich von Zweifeln zersetzt wurde. Zweifel, ob sie soviel Vertrauen überhaupt zulassen durfte. Ob die Ursache ihres Vertrauens noch nüchterner Analyse entsprang oder schon am Grunde ihrer Gefühle zu suchen war.
Letzteres wäre fatal gewesen. Und schien sich dennoch als Gewiß heit zu erweisen. Sie hatte einen Anflug von Wärme gespürt, der sie beunruhigte. Bathge festigte sich zur Person, und wie es aussah, wollte sie es nicht anders. Sie war sich der Gefahr bewußt, Objektivität und Abstand einzubüßen, wenn die Ursache eine tiefere Verlockung war, als die Vernunft ergründen konnte.
Sie brauchte einen stärkeren Schutz.
So hatte sie ihm nicht verraten, daß sie im Besitz des unzerschnittenen Fotos war und daß ein Sender ihr verriet, wohin er ging.
Aber sie hatte ihn angehört und die ureigene Sprache der Angst vernommen, die kein Zittern und kein Flehen in der Stimme braucht. Die sich in Ausdruckslosigkeit und Sachlichkeit mitteilt.
Die hinter Unbefangenheit und Lachen lauert. Die in jeder Sekunde dein Denken und Empfinden beherrscht, während du der Welt ins Angesicht schaust und Theater spielst, um sie nicht merken zu lassen, was los ist.
Schritt für Schritt weichst du zurück. Die Wände
Weitere Kostenlose Bücher