Die dunkle Seite
ihre Sechsmillimeterborsten. Zwinkernd und mit gekrauster Nase fingerte sie nach einem Handtuch und rubbelte sich damit trocken.
Der große Spiegel gegenüber der Dusche, aus deren Becken Wasser lief, weil kein Vorhang Vera von der Außenwelt trennen sollte, zeigte ihr ein hellbepelztes Wesen von eigenartiger Schönheit.
Sie trat näher heran und betrachtete sich. Immer noch fand sie ihr Gesicht zu breit, die Lippen aufgeworfen, das Kinn massiv. Nach wie vor erschien ihr der Umstand, daß sie naturgewollt von Kopf bis Fuß silberblond war, als bemerkenswert bis merkwürdig.
Erstmals seit langem aber gefiel sie sich.
Beinahe schüchtern drehte Vera sich zur Seite und reckte den Oberkörper nach hinten. Gebannt verfolgte sie das lebendige Spiel der Muskeln. Nichts an diesem Körper wirkte übertrainiert. Arme und Beine waren schlank, der Po fest, flacher Bauch, kleine straffe Brüste.
Eigentlich perfekt.
Sie näherte sich dem Spiegel, bis ihre Nasenspitze fast das Glas berührte, und betrachtete ihre Augen.
Gletschereis mit dunklem Rand.
Fas ... zinierend ...
Was ist denn plötzlich los, dachte sie.
Hey, Bulldoggenfresse! Größenwahnsinnig geworden?
Sie drehte den Kopf. Gut, die Nase war zu klein geraten. Der Mund zu dominant. Wie eine fleischfressende Pflanze.
Dennoch...
Halt. Da war immer noch die Narbe.
Okay, eine Narbe! Wenn schon. Dann hatte sie jetzt eben eine Narbe. Beziehungsweise seit einigen Jahren. Na und? Manche Naturvölker ritzten sich die Haut auf und rieben Schmutz in die Wunden, um einem Schönheitsideal zu entsprechen, das sie bereits verkörperte.
Der Gedanke ernüchterte sie schlagartig. Wenn ich jetzt noch anfange, die Narbe schön zu finden, dachte sie, muß ich vollkommen durchgeknallt sein!
Leichtfüßig wandte sie sich von ihrem Spiegelbild ab, hüllte sich in den Morgenmantel, ging ins Arbeitszimmer und fragte die Mailbox ab.
Jemand hatte angerufen. Spät in der Nacht.
Zuerst verstand sie den Sprecher nicht. Sie drückte auf REPLAY und hörte genauer hin. Der Anrufer sprach mit slawischem Akzent.
»Donnerstag morgen, drei Uhr fünfzehn«, sagte er. »Mein Name ist Ymir Solwegyn. Anschluß neun‐drei‐eins‐neun‐neun‐zwei‐eins.
Sie haben eine Anzeige aufgegeben. Rufen Sie mich zurück ... bitte.«
9.35 Uhr. Krantz
Nachdem Sonnenfeld gegangen war, machte sich Krantz daran, den Inhalt der Kiste zu untersuchen.
Sonnenfeld hatte gut gearbeitet. Irgendwie tat ihm der Junge leid.
Er war noch nicht lange bei der Truppe und hatte ziemlich romantische Vorstellungen von der Verbrecherjagd. Mit der Zeit würden sie sich abschleifen. Aber augenblicklich sah er voller Ehrfurcht empor zu den Männern ohne Nerven, die versuchten, ein Ungeheuer wie Üskers Mörder zur Strecke zu bringen.
Dabei sah er natürlich einiges verkehrt.
Wahrscheinlich würde er vor Menemenci auf die Knie fallen, dachte Krantz grimmig. Auch wenn der Alte nicht gerade aussah wie Pierce Brosnan oder Jodie Foster.
Aus unerfindlichen Gründen genoß dieser Türke, der keiner war, einen richtig guten Ruf. Das Dezernat bescheinigte ihm eine ungewöhnlich scharfe Beobachtungsgabe. Man attestierte ihm, schneller auf den Punkt zu kommen als die meisten seiner Kollegen. Über das bessere Abstraktionsvermögen zu verfügen. Schneller denken zu können. All das.
Warum, in Teufels Namen? Gerade Menemenci nahm sich in die ser angespannten Lage aus wie seine eigene Zeitlupe.
Krantz schnaubte. Der Fettsack schien buchstäblich nichts zu tun, als im zwölften Stock herumzulungern und dem Kölner Verkehr zuzusehen, wie er sich in Richtung Deutzer Brücke quälte.
Gut, er dachte nach.
Na und? Warum handelte er nicht und dachte nach, während er etwas tat? Es gab haufenweise Fakten und Anhaltspunkte, Vernehmungen, Vorladungen, alles mögliche. Krantz erstickte in Arbeit, und Menemenci dachte nach. Ein Grünschnabel hielt aus purer Langeweile Vorträge über die Fremdenlegion, und Menemenci dachte nach. Der heilige Zorn kam über Köln, und Menemenci dachte nach.
Krantz fühlte seinen Mißmut wachsen. Was hatte er eigentlich falsch gemacht?
Vor sich hingrummelnd sortierte er die zurückgegebenen Üsker-Dokumente zusammen und trug sie zu der Metaplanwand, um sie wieder einzuordnen.
Sein Blick streifte das Foto, auf dem Üsker zusammen mit dem Mann zu sehen war, der das Maschinengewehr trug.
Im Hintergrund die Wüste ...
Das Bild war wieder da!
Krantz überlegte. War es denn weg gewesen?
Natürlich war es weg
Weitere Kostenlose Bücher