Die dunklen Engel (German Edition)
«Heute Nachmittag.»
Sie schlang ihm die Arme um den Hals und zog sein Gesicht näher. Sie mochte seinen Geruch, seine Kraft, das zitternde Verlangen, das er in ihr weckte. Als sie ihm den Hügel hinunter gefolgt war, war ihr der Gedanke durch den Kopf gegangen, dass dieser Mann immer allein unterwegs war, dass er sich auf den tückischen Straßen allein mit seiner eigenen Klugheit und Kraft am Leben hielt. Vielleicht war es das, was ihn so begehrenswert machte; der Wunsch, diesen schlanken, unabhängigen Mann zu zähmen. Sie schaute zu ihm auf. «Du brauchst eigentlich niemanden, nicht wahr?»
Er lächelte sie an. «Jemanden zu lieben bedeutet nicht, ihn zu brauchen.»
«Nicht?»
«Nein.» Er küsste sie mit der Zärtlichkeit, die sie so an ihm liebte. «Wenn du jemanden brauchst, dann fehlt dir etwas.»
«Das klingt ganz einfach.»
«Ist es auch.» Er streichelte ihr Haar. «Was ist los?»
Sie zitterte, doch weder vor Kälte noch vor Begehren, sondern weil sie dieses dunkle Tal erreicht hatten, diesen Ort der Gefallenen Engel, und weil ihr Glück, das so nah schien, noch die Feuerprobe dieser Nacht überstehen musste. Er streichelte ihr Haar und küsste sie. Dann verließ er sie. Er gehe ihren Bruder suchen, sagte er, und dann würden sie zusammen zum Schrein der Verrücktheit und zu Luzifer gehen.
Als der Zigeuner den Gasthof erreichte, war auch Valentine Larke angekommen und saß in Marchenoirs Zimmer. Beide hießen Gitan willkommen, obwohl der Engländer ein wenig reserviert war. Die Erinnerung an ihr letztes Zusammentreffen wurmte ihn noch.
Bertrand Marchenoir bot ihm Wein an, doch der Zigeuner lehnte ab, wollte lieber Wasser.
«Ganz sicher?», fragte Marchenoir.
«Ich muss heute Abend Rede und Antwort stehen.»
Marchenoir zuckte die Achseln. «Die Fragen sind leicht, Gitan. Du bist lange genug bei den Illuminaten, um die Antworten zu kennen. Trotzdem bekommst du Wasser. Du hast das Mädchen dabei?»
«Ich habe sie hergebracht.» Der Zigeuner wandte sich an Larke, während Marchenoir den Wasserkrug neben dem Bett holte. «Ich bitte dich um Vergebung, Sir.»
Larkes harte, farblose Augen blickten auf. «Um Vergebung?»
«Für die Täuschung in Lazen. Ich wusste nicht, was sie vorhatte.»
Larke zuckte die Achseln. «Gib mir nur heute Abend die Möglichkeit zur Revanche.» Seine Worte waren mit Bitterkeit getränkt. Er würde der jungen Frau am Abend heimzahlen, was sie ihm in Lazen angetan hatte, würde sie schlagen, bis sie schrie. «Gib mir heute Abend nur die Möglichkeit zur Revanche.»
Gitan nickte. «Selbstverständlich.» Er drehte sich um und griff nach dem Wasser.
Marchenoir starrte den Zigeuner aufmerksam an. «Sie ist wirklich hier?», fragte er in einem Tonfall, als könnte er es kaum glauben.
Gitan lächelte. «Sie ist hier.»
«Du hast es genossen, mit ihr unterwegs zu sein, was?»
«Genossen?»
«Komm schon!» Marchenoir lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. «Erzähl mir nicht, du reist mit einer jungen Frau durch halb Frankreich und legst dich nicht zu ihr? War sie zu deiner Zufriedenheit, Pferdemeister?»
Gitan drückte einen Kuss auf die Fingerspitzen und warf ihn in die Luft.
Marchenoir lachte grimmig. «Luzifer hatte recht, was dich angeht. Sie können einfach nicht nein zu dir sagen, was?» Das Achselzucken des Zigeuners tat er mit einer Handbewegung ab. «Luzifer hat gesagt, du würdest sie herbringen. Gut gemacht, Gitan.»
«Sie redet sich ein, sie wäre verliebt?», höhnte Larke.
Gitan lachte. «Liebe ist ein Traumgespinst. Sie ist gekommen, weil sie glaubt, ihr Bruder lebte noch. Sie glaubt, ich treffe mich jetzt mit ihm, um euren Tod zu planen.»
Marchenoir runzelte die Stirn. «Heilige Unschuld! Als ich Priester war, habe ich mir die kleinen Mädchen angesehen, die zur Erstkommunion kamen, und habe gedacht, wie unschuldig sie doch aussahen! So jungfräulich! Aber was waren sie, he? Gebilde aus Fleisch und schleimiger Flüssigkeit, die nur darauf warteten, dass irgendein Flegel sie schwängerte! Mit sieben noch hübsch, aber mit zwölf schon Bestien mit feuchten Lippen und schweren Eutern. Tiere!» Angewidert verzog er das Gesicht und lächelte genauso plötzlich wieder. «Wollen wir über die Vorkehrungen für heute Abend reden?»
Marchenoir übernahm das Wort. Diese Nacht des Triumphes sollte besonders feierlich begangen werden. Dagon, der stumme Riese, hatte das Schloss vorbereitet. Jetzt musste Gitan in der Abenddämmerung nur noch das Mädchen bringen.
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