Die dunklen Engel (German Edition)
eingefangen, wie sie sich halb dem Betrachter zuwandte, Entzücken und Freude im Gesicht, und die Familientradition behauptete, das Gemälde sei in der Tat das Ebenbild der darauf Abgebildeten. Die Legende besagte, dass die Familie gezwungen gewesen war, Lely das doppelte Honorar zu zahlen, damit er sie nicht so malte wie alle anderen – mit aufgeworfenen Lippen und träger Fleischlichkeit –, sondern so, wie sie wirklich war.
Es hieß, die erste Campion sei die schönste Frau in Europa gewesen. Ihr Haar war hellblond, ihre Augen blau und ihr ruhiges Gesicht erfüllt von einer Art lebhafter Zufriedenheit. Sie war schön, nicht nur ihre Züge, Gestalt, Lippen, Haut und Haar – sie besaß eine Schönheit, die aus einer tiefen Freundlichkeit und innerem Glück erwuchs. Der Zigeuner wandte sich von dem Gemälde ab, und seine blauen Augen betrachteten Campion mit Belustigung.
Sie war verlegen, denn sie wusste, was er dachte, sie wusste immer, was die Leute dachten, wenn sie das Gemälde sahen. Sie hielten es für ihr Porträt. Auf geheimnisvolle Weise war die Schönheit der ersten Gräfin über die Generationen an ihre Urururenkelin vererbt worden.
Und doch enthielt dieses Bild mehr als diese seltsame Ähnlichkeit mit ihr. Es lagen Geschichten darin, Geschichten über die vier goldenen Schmuckstücke am Hals der Gräfin und eine Geschichte über seinen Titel, Porträt einer Nymphe. Der Titel irritierte zuweilen die Betrachter, und bei den meisten blieb es dabei, denn nur wenige, nur wenige Privilegierte, wurden aufgefordert, ans andere Ende der Galerie zu gehen und die seidenen Falten des schockierend tief ausgeschnittenen Kleids zu betrachten, das die erste Gräfin von Lazen trug.
Das Kleid war blaugrün, wie Wasser, und wer beim Betrachten darauf hingewiesen wurde, erkannte plötzlich in dem prachtvollen Faltenwurf die Umrisse einer schwimmenden nackten jungen Frau. Doch eine Sekunde später blinzelte der Betrachter, runzelte die Stirn und schwor, es gebe nichts zu sehen. Und doch war sie da, nackt und schön, eine Nymphe im Fluss, und die Legende besagte, dass die erste Gräfin so von ihrem Ehemann gesehen worden war.
Campion, die das Bild kannte, konnte die nackte junge Frau immer sehen, doch kein Besucher hatte die Nymphe je entdeckt, ohne darauf hingewiesen worden zu sein. Sie verspürte den ungeheuerlichen Drang, es dem Zigeuner zu erzählen, einen Drang, den sie verlegen unterdrückte. Die nackte, schwimmende Nymphe war ihr auf dieselbe unheimliche Art ähnlich wie die Gräfin.
Plötzlich war sie wütend auf sich. In einer Zeit wie dieser, da ihr Bruder in Trauer war, flirtete sie mit einem verbotenen Reiz. Sie hatte Schuldgefühle, schämte sich und staunte darüber, dass diese ungebetenen Gedanken so stark waren. Sie sah den Mann an. «Sie kehren nach London zurück?»
«Ja, Mylady.»
«Möchten Sie heute Nacht in unseren Stallungen bleiben?»
Er zögerte, dann schüttelte er den Kopf. «Meine Anweisung lautet, auf schnellstem Weg zurückzukehren, Mylady.»
Sie war erleichtert. Das Leben würde nicht einfach sein, solange dieser große, prächtige, faszinierende Mann in Lazen Castle weilte. «In der Küche bekommen Sie etwas zu essen.»
«Danke, Mylady.»
«Und danke, dass Sie das hier gebracht haben.»
Damit war er entlassen. Er verbeugte sich vor ihr und verließ die Galerie. Sie schaute ihm nach, und als sich die Tür hinter ihm schloss, hatte sie das Gefühl, ihre Sinne wären von einer plötzlichen und unwillkommenen Last befreit worden. Sie wandte sich zu Mrs. Hutchinson um. «Schlechte Neuigkeiten, Mary.»
«O nein, meine Liebe. Um Gottes willen.»
Lucille war tot, es würde keinen Nachwuchs auf Lazen geben. Campion weinte.
Gitan verließ Lazen an diesem Nachmittag, seine gefütterte und ausgeruhte Stute zeigte auf dem Weg nach Osten keine Schwäche.
Als er in den nassen Wald kam, der an das Gut grenzte, lächelte er. Vom Herbstlaub tropfte monoton das Regenwasser, und die Luft war erfüllt vom Geruch nach feuchtem Laub.
Er brachte Botschaften von Marchenoir nach London, geheime Botschaften, und diese Botschaften waren in der Scheide seines Degens versteckt.
In Begleitung von Lord Werlatton war er sicher nach England gelangt, doch seine wahren Absichten waren verborgen, so gut verborgen wie die nackte junge Frau, die er in dem prächtigen blaugrauen Porträt in der Galerie entdeckt hatte. Beinahe hätte er aufgelacht, als er sie sah, so lebensecht war sie ihm erschienen und der
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