Die dunklen Engel (German Edition)
Bewohner Kälte und Hunger vergessen ließ.
Es war ein Sonntag. Es regnete.
Ein bitterer, graupeliger Regen fiel schräg wie Nadelstiche durch den dichten Rauch, der in Fetzen über den Dächern von Paris hing. Alles wirkte rußig, schien vom schmierigen Dreck des Winters berührt worden zu sein. Die Seine glich dem Styx. Hunde- und Katzenkadaver trieben in dem grauen, verseuchten Wasser zum fernen Meer.
Die großen Tage des Sommers schienen lange her, die Tage, als die Menschen die Tuilerien gestürmt, die prächtigen Säle geplündert und die Wache des Königs in den sonnenüberfluteten Höfen in einen elenden Tod gehetzt hatten. Der Palast war immer noch leer, seine Fenster waren nicht repariert worden, seine Stuckdecken immer noch angeschlagen von den Kugeln des Sommers.
Die winterliche Menschenmenge, die an dem Palast vorbeistapfte, würdigte ihn kaum eines Blickes. Auf sie wartete im Westen eine größere Attraktion, auf dem großen Platz, der triumphierend in Place de la Révolution umbenannt worden war.
Unter ihr war Toby Lazender, Lord Werlatton.
Wenn seine Schwester ihn gesehen hätte, hätte sie nicht gewusst, ob sie lachen oder weinen sollte. Seit einer Woche hatte er sich nicht rasiert. Auf seinen ungebärdigen, ungeschnittenen roten Locken saß eine noch rötere Mütze, die Jakobinermütze. Bekleidet war er mit einer zerlumpten Hose, ebenso ein Symbol für die revolutionäre Leidenschaft wie die rote Mütze selbst. Ein Mann in Kniehose erweckte leicht den Verdacht, elitäre Sympathien zu suchen.
An den Füßen trug er Holzschuhe, die ihm zu groß und deshalb mit Stroh ausgestopft waren. Er hatte einen zerrissenen Mantel an, mit einer Kordel eng gegürtet, über dem ein grober Umhang aus schmutzigem Sackleinen hing. Im Palais Royal hatte er im Fenster eines Messerschmieds einen Blick auf sein Spiegelbild erhascht und bei der Vorstellung gelacht, welche Verwunderung sein Anblick in Lazen hervorgerufen hätte.
Manchmal dachte er an die flehentlichen Worte seiner Schwester. Campion hatte gesagt, als Erbe von Lazen sei es jetzt seine Pflicht, die Erbfolge sicherzustellen. Er gab ihr aus vollem Herzen recht, doch er war noch nicht bereit, seiner Pflicht nachzukommen. Eigentlich sollte er in England sein und sich unter den unzähligen jungen Frauen, die sich nichts sehnlicher wünschten, als die nächste Countess of Lazen zu werden, eine zur Gemahlin wählen.
Er hatte nie der Erbe sein wollen. Der Tod seines älteren Bruders hatte zu einem Zeitpunkt, da er bereits tief in Lord Paunceleys geheime Welt verstrickt war, die Verantwortung auf Tobys unwillige Schultern geladen. Er zögerte, Paunceleys Welt zu verlassen, und Lucilles Tod hatte ihn darin bestärkt.
Wenn Lucille noch leben würde, hätte ich sie mit nach Lazen genommen und wäre zufrieden gewesen. Niemand wusste, wie sie sein Leben berührt hatte, wie glücklich ihn allein ihre Gegenwart gemacht hatte, in welch freudlosem und schrecklichem Zorn ihr Tod ihn zurückgelassen hatte.
Lord Paunceley, klug und prinzipienlos, hatte den Zorn gesehen und war froh gewesen, ihn für seine eigenen Zwecke nutzen zu können.
Paunceley hatte Toby in die Vendée geschickt, einen französischen Landstrich südlich der Bretagne. Dort sollte Toby feststellen, ob die Bewohner hofften, sich erfolgreich gegen die neue französische Republik auflehnen zu können. Die Bewohner der Vendée wollten ihren König auf dem Thron, sie wollten ihre Kirche wiedereingesetzt sehen, und sie wollten nichts zu tun haben mit dem Republikanismus und seinen hohlen Schlagworten Gleichheit und Freiheit. Doch an diesem Januarsonntag im Jahre 1793, an diesem historischen, nassen Sonntag, hatte Toby die Vendée verlassen, um in Paris zu sein.
Er hatte die Nacht mit zwanzig anderen in einem Zimmer in einer kleinen Herberge in der Rue des Mauvais Garçons verbracht. Seinen Namen hatte er dort als Pierre Cheval angegeben und den Herbergswirt damit erstaunt, dass er ihn in unbeholfenen Blockbuchstaben ins Buch geschrieben hatte. Bauern vom Land konnten eigentlich nicht lesen und schreiben. Er hatte eine Mahlzeit gegessen, die ihn sechs Sous gekostet hatte, war dann in die kalten, graupeligen Straßen von Paris hinausgegangen und in eine Taverne namens Laval eingekehrt. Als Fremder mit einem ländlichen Akzent war er zuerst nicht willkommen gewesen, doch als er sagte, sein Freund Gitan habe ihn geschickt, wurde er freundlich in der Runde der Trunkenen aufgenommen.
Als er sich jetzt der
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