Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
die Vision verschwand. Sie war etwa in Annas Alter, und auf ihrem von einem dunklen Haarkranz umgebenen Gesicht schimmerten Tränen der Erleichterung.
Konstantinos machte das Kreuzzeichen und sagte etwas, was Anna auf die Entfernung nicht verstehen konnte. Die Frau wandte sich um und verließ den Raum durch eine andere Tür. Anna ging auf den Bischof zu. Jetzt war der Augenblick für die erste wichtige Lüge gekommen. Sofern sie diese Prüfung bestand, lagen tausend weitere vor ihr.
Konstantinos hieß sie mit einem Lächeln willkommen.
» Anastasios Zarides, Ehrwürdigste Exzellenz«, sagte sie achtungsvoll. »Ich bin Arzt und vor kurzem aus Nikaia gekommen. «
»Seid willkommen«, gab er voll Wärme zurück. Seine Stimme war tiefer als die der meisten Eunuchen, so, als habe man ihn erst lange nach der Pubertät entmannt. Sein glattes Gesicht war bartlos, und seine braunen Augen blickten scharf. » Was kann ich für Euch tun?« Zwar war er höflich, wirkte aber unbeteiligt.
Sie hatte ihre Lüge gut einstudiert. »Ein entfernter Verwandter hat mir geschrieben, dass Ihr ihm in schwierigen Zeiten beigestanden habt«, begann sie. »Er heißt Ioustinianos Laskaris. Danach habe ich außer beunruhigenden Gerüchten über einen tragischen Vorfall lange nichts mehr über ihn gehört. Ich wage in der Sache nicht weiter nachzuforschen, um ihm keine Ungelegenheiten zu bereiten.«
Trotz der Wärme im Raum zitterte sie. Der Bischof sah sie aufmerksam an, wie sie dastand, gleich jener Frau respektvoll wartend. Sie hob die Hände, wusste dann aber nicht, was sie mit ihnen tun sollte, und ließ sie wieder sinken. Was wusste der Bischof über Ioustinianos? Dass seine Eltern nicht mehr lebten, dass er Witwer war? Sie musste vorsichtig sein. »Seine Schwester macht sich große Sorgen um ihn.« Zumindest das war die reine und unverfälschte Wahrheit.
Mit ernstem Gesicht nickte er bedächtig. »Ich fürchte, ich habe keine guten Nachrichten für sie«, sagte er schließlich. »Ioustinianos lebt zwar, aber man hat ihn in ein Wüstenkloster weit hinter Jerusalem verbannt.«
Mit einem Ausdruck von Bestürzung fragte sie: »Aber warum denn? Was hat er getan, um eine solche Strafe zu verdienen?«
Der Bischof presste die Lippen aufeinander. »Bessarion Komnenos wurde ermordet, und man hat ihn der Mittäterschaft beschuldigt. Dieses Verbrechen hat ganz Konstantinopel erschüttert, denn Bessarion war nicht nur von edler Abkunft, er galt darüber hinaus vielen geradezu als Heiliger. Ioustinianos kann von Glück sagen, dass man ihn nicht hingerichtet hat.«
Annas Mund fühlte sich trocken an, und das Atmen fiel ihr schwer. Über Generationen hinweg waren die byzantinischen Kaiser aus dem Hause Komnenos gekommen, bevor die Laskariden auf den Thron gelangt waren, während der jetzige Herrscher aus dem Geschlecht Palaiologos stammte.
» War das die schwierige Lage, in der Ihr ihm beigestanden habt?«, fragte sie, als sei sie gerade jetzt zu dieser Schlussfolgerung gelangt. »Aus welchem Grund hätte er sich zu einer solchen Untat hinreißen lassen können?«
Der Bischof überlegte einen Augenblick. »Ist Euch bekannt, dass der Kaiser im nächsten Jahr Gesandte ausschicken will, die mit dem Papst verhandeln sollen?«, fragte er. Er gab sich keine Mühe, die Schärfe aus seiner Stimme herauszuhalten, die deutlich zeigte, wie er zu diesem Vorhaben stand. Wie bei einer Frau schienen seine Gefühle dicht unter der Oberfläche zu liegen, ganz so, wie man es Eunuchen nachsagte.
»Ich habe dies und jenes munkeln hören«, gab sie zurück, »und gehofft, dass es nicht zutrifft.«
»Das tut es aber«, entgegnete er knapp. Er stand starr und hatte seine bleichen, kräftigen Hände halb vor sich erhoben. »Um uns vor dem Heer der Kreuzfahrer zu bewahren, ist der Kaiser bereit, auf der ganzen Linie zu kapitulieren, ganz gleich, welche Lästerungen damit verbunden sind.«
Sie merkte, dass der Bischof sie trotz der Leidenschaft, mit der er sprach, aufmerksam musterte.
»Die Heilige Jungfrau wird uns beschützen, wenn wir auf sie vertrauen«, sagte sie, »wie sie es auch schon früher getan hat.«
Die fein geschwungenen Brauen des Bischofs hoben sich. »Seid Ihr so neu hier, dass Ihr nicht gesehen habt, welche Spuren der Brandschatzung der Stadt durch die Lateiner noch heute zu erkennen sind, siebzig Jahre, nachdem sie Konstantinopel erobert haben?«
Sie schluckte. Sie hatte sich entschlossen. »Ich nehme nicht an, dass unser Glaube damals Schaden
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