Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
Gegengabe bringen, denn er hatte sie immer unterstützt, wenn es nötig war.
Hier im Windschatten des Hauses und der Außenmauer war es warm, konnte man noch eine Erinnerung an den Sommer genießen, während sich das Jahr rasch seinem Ende zuneigte. Sofern sich Charles von Anjou trotz des Zusammenschlusses von Byzanz mit Rom nicht von seinem Kreuzzug abhalten ließ, konnte der nächste Sommer der letzte vor dem Angriff sein.
Würde sie dann zu denen gehören, die zu fliehen versuchten, oder würde sie bleiben, wie sich das für einen Arzt wohl gehörte? Man würde sie in der besetzten Stadt brauchen.
Und wie sähe das Leben aus, wenn Konstantinopel unter der Zwangsherrschaft der Kreuzfahrer stand? Ihre Kirche würde es dann nicht mehr geben. Wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich war, fiel es ihr immer schwerer, sich ganz und gar dem orthodoxen Glauben hinzugeben. Sie war allmählich zu der Überzeugung gelangt, dass für den einsamen Weg zu Gott inneres Feuer und ein seelisches Bedürfnis erforderlich waren, die keine Hierarchie und kein noch so prunkvolles Ritual dem Menschen zu vermitteln vermochten.
Giuliano fehlte ihr. Als liege es erst wenige Augenblicke zurück, standen ihr die Szene und der Ausdruck seines Gesichts
vor Augen, als er sie in einem Kleid gesehen hatte. Es war ihr fast vorgekommen, als habe er begriffen und sei zugleich so heftig abgestoßen worden, als habe er sich auf unerträgliche Weise hintergangen gefühlt.
Jetzt würde sie das Einzige für ihn tun, was sie konnte: ihn von dem Gefühl befreien, durch den Verrat seiner Mutter befleckt zu sein, nicht nur ungeliebt, sondern möglicherweise auch unfähig zu lieben, als sei ihr Blut, das in seinen Adern floss, zugleich Gift in seiner Seele.
Was auch immer sie über diese Frau herausbekommen konnte, war vielleicht längst nicht so schlimm wie das, was Zoe gesagt hatte.
Wo mochte sie sich nach Magdalena Agallon erkundigt haben? Lebte in Konstantinopel nach wie vor eine Familie dieses Namens, oder war sie dort geblieben, wo sie zur Zeit der Vertreibung gelebt hatte?
Anna ging mit den von ihr geernteten Pflanzen ins Haus, wusch sich die Hände, trennte Blätter und Wurzeln, räumte alles ein und kennzeichnete es. Den Zitronen-Thymian und die Alraune wickelte sie getrennt ein.
Sie würde ihre Suche damit beginnen, dass sie sich bei Schachar erkundigte.
Während sie auf seine Auskunft wartete, gingen Monate ins Land.
Im Frühwinter suchte sie Schachar auf, nachdem er ihr eine Mitteilung geschickt hatte. Darin hieß es, sie solle sich warm anziehen und sich auf einen langen Ritt einstellen.
Lächelnd führte er sie in den Hinterhof seines Hauses, wo zwei Maultiere bereitstanden. Ganz offensichtlich wollte er unverzüglich aufbrechen.
Eine Meile von den Außenbezirken der Stadt entfernt –
inzwischen war es dunkel und nahezu mondlos – sagte er: »Ich habe Magdalenas Schwester Eudoxia gefunden. Sie lebt in einem Kloster. Sie ist alt und krank, und ich weiß nicht, was sie Euch berichten wird. Ihr sucht sie als Arzt auf, um sie zu behandeln. Ihr dürft sie fragen, was Ihr wollt, müsst Euch aber mit dem zufriedengeben, was sie sagt, und Euch auch sonst an die Bedingungen halten, die sie stellt. Sofern sie sich entschließt, Euch nichts zu sagen, werdet Ihr trotzdem Euer Bestes für sie tun.«
»Ich?«, fragte sie rasch. »Was ist mit Euch?«
»Ich bin Jude und ein Mann«, erinnerte er sie. »Ich begleite Euch offiziell als Euer Diener, da ich den Weg kenne und Ihr nicht. Ich werde vor dem Kloster warten. Ihr als Christ und Eunuch seid für eine Nonne der ideale Arzt.«
Schweigend ritten sie zwei weitere Stunden, bis vor ihnen eine riesige Klosteranlage aus der Dunkelheit auftauchte. Mit den kleinen Fenstern hoch in der Mauer sah das Ganze von außen aus wie eine Festung oder ein Kerker. Wegen der Kälte durfte Schachar in der Küche warten.
Eine Nonne führte Anna durch einen schmalen steinernen Gang zu einer Zelle, in der eine alte Frau auf einer Pritsche lag. Obwohl Alter und Kummer ihr Gesicht verwüstet hatten, ließ sich noch erkennen, dass sie einst sehr schön gewesen sein musste.
Anna brauchte nicht zu fragen, wer sie war. Die Ähnlichkeit mit Giuliano war so verblüffend, dass sie beinahe zurückfuhr.
Sie versuchte, den Kloß in ihrer Kehle herunterzuschlucken, dankte der Nonne, die sie begleitet hatte, und trat in die Zelle. »Schwester Eudoxia?«, fragte Anna leise.
Die Frau öffnete neugierig die Augen und setzte sich
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